Herzensach - Roman
Förster stellte den Motor ab und folgte ihm langsam zum Rand des kleinen Plateaus.
Zu ihren Füßen lag Herzensach. Von hier oben sah auch das Dorf aus wie aus einem Bilderbuch. Die Fachwerkhäuser drängten sich schutzsuchend unter großen Eichen zusammen, und der kleine Fluß hielt alles zusammen in seinem Arm. Nur die Kirche hob mahnend ihren Finger, und das große Gutshaus suchte Abstand vom Gemeinen. Ein einziges Gebäude auf dem gegenüberliegenden flachen Hügel, ein moderner weißer Bungalow (oder war es ein Umspannwerk der Elektrizitätsgesellschaft?), störte die Einheit.
Die Freude über den idyllischen Anblick mischte sich mit Jakobs Erregung, in dem vom Heidberg zum Fluß abfallenden Wald genau jene Landschaft gefunden zu haben, die er für seine wissenschaftliche Arbeit benötigte.
Der Himmel färbte sich goldrot, und kleine weiße Wolken formierten sich zu einem Kreis. Sollte sich alles wie in einem Groschenroman fügen, dachte Jakob, und ihm sein Unglück mit dem Wagen letztlich Glück bringen? Dann mußte er in Johann Franke einen väterlichen Freund finden, der sein Projekt unterstützte. Er wandte sich um zur Realität.
Der Förster hatte sich bereits entfernt. (Hinkte er plötzlich? Kam etwas Schwefeldunst aus seinem Haar?) Er drückte die Zweige eines Gebüschs zur Seite, legte einen der verbliebenen sieben Runensteine frei und winkte Jakob heran.
»Die Historiker sind sich nicht sicher, welche Bedeutung dieser Platz gehabt hat. Die Runen sind verwittert, kaum noch sichtbar und zum Teil unbekannter Art. Manche gehen davon aus, daß es ein Versammlungsort war, ein Fixpunkt in dem Chaos, als das die Welt den Menschen damals erschien.«
Er bückte sich, fuhr mit der flachen Hand über die Zeichen auf dem etwa einen Meter hohen Stein. »Andere sprechen von einem Richtplatz. Einem Platz des Todes. Blut wurde gekocht. Man hat Knochen gefunden. Eine Hexenverbrennung soll hier stattgefunden haben, mehrere Duelle. Und nach dem Krieg hat es ein paar Leute gegeben, die hier oben Selbstmord verübten, weil sie mit ihrer Ideologie den Glauben an die Zukunft verloren hatten. Aus heutiger Sicht waren sie übrigens nicht bei Trost.« Der Förster richtete sich wieder auf. »Trost. Ein interessantes Wort, nicht wahr?« Er griff dem Studenten wie einem Kranken unter den Arm und führte ihn zurück.
»Natürlich werden Sie auch noch eine andere Geschichte über diesen Platz hören. Der Germanenführer Hadegurt oder Heidegurt soll diese Steine hier oben errichtet haben. Einen jeden für einen getöteten römischen Hauptmann. Hadegurts Truppen wurden von den Römern geschlagen, sammelten sich hier und erblickten die Herzensach im Tale. Sie wanderten hinunter, um sich zu erfrischen. Das Wasser des Flusses aber flößte ihnen so viel neuen Mut ein, daß sie den Kampf wieder aufnahmen und die römische Legion in einem Hinterhalt vollkommen aufrieben. Sie finden dieses Ereignis auch in dem Büchlein des Pastors über Herzensach beschrieben. Haben Sie das Buch noch nicht gesehen?«
Jakob Finn schüttelte den Kopf.
»Ich will nichts gegen meinen Freund, den Pastor, sagen – er hat mich in seiner Kirche schon predigen lassen, was auch nicht unbedingt für ihn spricht.« Der Förster lachte laut und nach dem Geschmack des Studenten etwas zu lange. »Nun, ich habe erheblichen Zweifel an der Echtheit dieser Germanensage.«
(Der Förster hat recht. Der anfangs erwähnte Frankfurter Historiker Michael Leibrandt, der die Geschichte dieser Gegend gründlich erforscht hat, kann sogar die Quelle der Sage benennen: Johann Jacob van Grunten hatte sie 1880 erfunden, um den Absatz seines Herzensacher Heilwassers zu fördern. In seinem berühmt gewordenen Aufsatz Wahrheit und Dichtung um die germanischen Helden, veröffentlicht in ›History and Science‹, Boston 1972, behauptet Leibrandt: »Weniger die bewußten politischen Fälschungen historischer Ereignisse stellen den Wissenschaftler heute vor unlösbare Aufgaben – denn hier sind Ziel und Absicht mittels anderer Quellen immer zu filtrieren – als vielmehr jene Erfindungen, welche privaten oder Reklamezwecken dienten und dienen, um einen Ort oder einem Produkt Ansehen zu verleihen.«)
Jakob nickte. »Das Wandgemälde des Gasthofs zeigt diese Szene.«
»Gasthof?« Der Förster zog verächtlich die Lippen herab. »Dieser verdammte Fliegenwirt brütet nichts als Maden aus.« Johann Franke spuckte aus.
Erschrocken über den plötzlichen Ausbruch offenen Hasses, zuckte
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