Herzensach - Roman
vorbei. In letzter Zeit sogar sehr oft. Ja, diese Claudia wäre wohl die richtige. Und was für ein stattlicher Schwiegervater! Das gäbe eine Hochzeit!
Maria Glaser seufzte wieder. Ob sie dieses Fest noch erleben würde?
Sie schreckte hoch. Vor dem Haus war ein Geräusch auf dem Kies zu hören. Hatte sie, in Gedanken versunken, nicht bemerkt, daß der Gutsherr vorgefahren war? Sie stand auf, beugte sich weit aus dem Fenster und sah an der weiß getünchten Fassade des Mittelbaues hinunter auf die im Halbkreis geschwungene Freitreppe vor dem Eingang. Doch kein Wagen stand davor. Nur Werner Kotschik goß die beiden großen, links und rechts neben der Treppe auf Säulen stehenden, rot leuchtenden und ungenau als Geranien bezeichneten Topfpflanzen. (Seit einiger Zeit versuchte er zu beweisen, daß ein vierzehntägiger Guß mit kalter Fleischbrühe besonderen Blütenreichtum hervorrufe.)
Maria erinnerte sich, wie sie als Kinder an den Vorsprüngen und Ritzen der Seitenflügel auf deren flaches Dach hinaufgeklettert waren. Denn für die Anbauten hatten die grob behauenen Natursteine des ehemaligen Wehrturms Verwendung gefunden. Sie nahmen den weißen Mittelbau in die Zange und wirkten so trutzig, als gelte es noch immer, Raubritter abzuschrecken. Den für die Erweiterung des Gutshauses zuständigen Architekten, einen berühmten Baumeister, hatte man aus Spanien geholt. Kurz vor Abschluß der Bauarbeiten fand man ihn erhängt im Forst. Der Grund für seinen Freitod war nicht gewiß, man vermutete eine unheilbare Krankheit.
Mysteriös hatte es schon begonnen: Als man den alten Wehrturm abtrug, der zwischen Gutshaus und dem Fluß für sich stand, öffneten Arbeiter in seinem Fundament ein vermauertes Verlies und fanden darin angeblich Schädel und Knochen eines Menschen. Auch eine Kette mit dem Wappen der Weinsteiner Grafen soll dort gelegen haben. Doch der alte Johann Jacob van Grunten soll befohlen haben, alles sofort wieder zu verschließen. Kurz danach ließ er das Untergeschoß des Turmes fluten. So entstand jener große, kreisrunde und lieblich mit Seerosen bewachsene Gartenteich, dessen Begrenzung die Grundmauern des ehemaligen Wehrturms bilden. Wohl nicht nur die schnelle Entscheidung des Gutsherrn, das Verlies endgültig in der Versenkung verschwinden zu lassen, sondern auch der Heimatdichter Gustav Ballkmeister, der sich Vivalis nannte, ist schuld daran, daß man von offizieller Seite die Berichte der Bauarbeiter nicht überprüfte. Dieser Vivalis veröffentlichte damals die angeblich wahre Geschichte der im Turm gefundenen Knochen unter dem Titel »Das Gespenst von Herzensach«. Eine simple Gruselgeschichte in Versform, deren Motive aus dem Grimmschen Märchen »Rapunzel« entlehnt worden waren. Das Ergebnis war, daß die amtlichen Stellen sich weigerten, solchen lyrischen Erfindungen nachzugehen.
Rund dreißig Jahre später erinnerte man sich plötzlich wieder an dieses Ereignis. Beim Reinigen des Teiches waren in den Wurzeln des Schilfs verfangene menschliche Knochen gefunden worden. Maria war dabei gewesen und sah das erschrockene Gesicht des damaligen Verwalters heute noch vor sich. Diesmal gab es keine Möglichkeit, den Fund zu verheimlichen. Zu viele Bürger aus der Umgebung waren in den vergangenen Jahren spurlos verschwunden. Ein Gerichtsmediziner bestimmte den Fund als Oberarm und Schultergelenk eines etwa fünfzigjährigen Mannes. Daraufhin wurde unter polizeilicher Aufsicht der gesamte Teich abgesucht – ohne weiteres Ergebnis. Ein paar Monate danach gestand ein Schlachtergeselle aus Weinstein eine Reihe von Morden. In der Vernehmung behauptete er, sich nicht mehr an die Orte zu erinnern, wo er seine Opfer verscharrt habe. Der Knochenfund im van Gruntener Gartenteich paßte zwar zu keiner der vermißten Personen so recht, wurde aber mit diesem Fall zu den Akten gelegt.
Der eigentliche Grund für den 1901 fertiggestellten Ausbau des Gutshauses war der Wunsch Johann Jacob van Gruntens nach mindestens zehn Enkelsöhnen gewesen. Die als Kinderzimmer vorgesehenen neuen Räume sollten seinen Sohn Hubertus, der 1899 geheiratet hatte, ständig an seine Pflicht erinnern, Söhne zu zeugen. Seit des Piraten Vertrag mit dem Grafen Weinstein waren Nachkommen bei den van Gruntens, vor allem männliche, Mangelware. Sein Sohn Hubertus schenkte ihm pünktlich im selben Jahr den kleinen Friedrich und drei Jahre später den verkrüppelten und schwachsinnigen Carl, der wie gesagt 1912 bei der Jagd umkam. Hubertus
Weitere Kostenlose Bücher