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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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nicht, ohne uns als Balken zur Tragfähigkeit unseres Hauses, unserer Zukunft zu dienen.«
    Der Student unterdrückte ein Grinsen und verstaute seine Reisetasche neben dem Koffer.
    »Doch kein Baum fällt, ohne gehalten zu werden. Bäume weichen im Gegensatz zu Menschen nicht aus. Holz ist härter als Blut. Fleisch brennt ohne Flammen. Und eine Träne aus Harz weiß man nach Jahrtausenden noch zu schätzen.«
    Jakob hatte Schwierigkeiten, den Gedanken des Försters zu folgen. Er kletterte auf den Beifahrersitz. Johann Franke gab keine Erklärung ab, sondern wendete schweigend.
    Sie bogen von der Straße in einen Feldweg ein, der bald anstieg und in einen lichten Laubwald führte. Wie der Förster erklärte, war es jener Teil des Forstes, der noch zum Gut gehörte und den die van Gruntens jeden Herbst als Jagdrevier nutzten. 1912 hatte Hubertus van Grunten hier seinen zweiten Sohn Carl erschossen und Mühe gehabt, das Ereignis als Jagdunfall hinzustellen. Carl, damals acht Jahre alt, mit einem verkrümmten Rückgrat zur Welt gekommen und leicht schwachsinnig, von seinem Vater auch »Krüppel« gerufen, war in den Augen der Öffentlichkeit kein glaubwürdiger Jagdbegleiter gewesen. Der ›Weinsteiner Bote‹, damals noch eigenständige Zeitung und nicht wie heute nur zweiseitiger Regionalteil, schrieb: »... so wird der van Gruntensche Forst sein blutiges Geheimnis nicht preisgeben, dessen Ursache vielleicht in einem sich ungewollt lösenden Schusse oder im ungezähmten Willen seines Besitzers zu suchen ist. «
    Der mutige Schreiber dieser Zeilen wurde bald darauf seines Postens enthoben, was einerseits die damalige Macht der van Gruntens bewies – und wohl noch ein bißchen mehr.
    Der Förster hielt vor der dreihundertjährigen Eiche, die alles mit angesehen hatte, und betrachtete stumm deren starke Wurzeln. Jakob befürchtete schon, er wolle die Patronenhülse von 1912 suchen.
    »Selbst unser verrückter Pastor Pedus«, sagte Johann Franke langsam, »wird mir nicht widersprechen, wenn ich behaupte, daß Gott wohl eher unter unseren Füßen als über unseren Köpfen zu finden ist.«
    Er fuhr wieder an, und sie erreichten in rascher Fahrt die Grenze des Staatsforstes. Der Wald wurde kräftiger, und der Weg verdichtete sich zu einem für die Strahlen der Abendsonne beinahe undurchdringlichen Hohlweg. Immer mehr Nadelbäume mischten sich in den Laubwald, ließen Raum für gras- und moosweiche Lichtungen, dann wieder standen sie so niedrig und dicht, daß ihre Zweige sich ineinander verfilzten, und strömten einen so intensiv harzigen Duft aus, wie ihn der Student noch nie wahrgenommen hatte.
    Ein Fuchs kreuzte ihren Weg, Eichhörnchen sprangen in der Höhe von Baum zu Baum. Rehe und Hirsche verharrten still oder flüchteten, und manchmal lief ein Hase dem Wagen ein Stück voraus. Ein Wald, der dem Studenten so vollkommen erschien wie eine Illustration in einem Märchenbuch. In diesem Wald durfte man Fabelwesen vermuten, die sich mit buckligen Hexen stritten, Zauberer mit langen Bärten sammelten geheimnisvolle Kräuter, um damit Trolle zu vergiften, die wiederum zum Spaß den Geist harmloser Wanderer verwirrten. Zu guter Letzt mußte eine Fee alles wieder in Ordnung bringen.
    Johann Franke hatte die Geschwindigkeit gesenkt und hielt oft an, um den Studenten auf Besonderheiten des Bewuchses aufmerksam zu machen, auf den Kampf einiger Pflanzen um das Licht oder auf das optimale Miteinander unterschiedlicher Arten. Jedesmal verband er dies mit einem gewöhnlichen Ereignis aus dem Leben eines Menschen.
    Die Fähigkeit des Försters, Natur- und Menschenkenntnis miteinander zu verbinden, war bewundernswert. Jakob konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, einen wirklich weisen Mann neben sich zu haben, und brachte das unverhohlen zum Ausdruck. Johann Franke wehrte ab, jeder Mensch könne diese Beobachtungen machen, behauptete er, man müsse ihm nur genug Zeit lassen.
    Wieder stieg der Weg an. Die Nadelbäume blieben zurück, überließen den Birken das Revier, schließlich ging der Wald in niedrigere Sträucher über, und sie erreichten die Spitze des Heidbergs. Ein freier, lehmiger und nur teilweise grasbewachsener Platz, von dem aus man über die in der Abendsonne leuchtenden Baumwipfel hinweg in das Herzensacher Tal blicken konnte.
    »Wenn der Tod die Hinterlassenen ohne Trost läßt, so wächst dort nichts mehr«, sagte der Förster düster. Doch Jakob Finns Freude konnte er nicht trüben. Er sprang aus dem Wagen. Der

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