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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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blind und taub. Deshalb war er auf eine harte Landung nicht vorbereitet. Seine Frau wurde schwanger. Seine Ängste begannen. Er wollte kein weiteres Kind. Sie gebar eine zweite Tochter. Seine Furcht vor Frauen wurde zur Furcht vor fast allen Menschen.
    Mit vierundvierzig Jahren war Bernhard Andree als Landarzt am Ende seiner beruflichen Möglichkeiten angelangt, die zu Beginn seiner Laufbahn angestrebte Professur nicht mehr zu erreichen; aber da war noch das Labor im Keller des Hauses, schon vom Vorgänger eingerichtet, in das er sich fast täglich einschloß, um seine streng wissenschaftliche Arbeit fortzuführen. Eines Tages würde er die Fachwelt überraschen. Doch wann, das stand dahin. Niemand wußte, was er im Keller tat. Niemand durfte ins Labor. Seine Frau ließ ihn gewähren, bedrängte ihn nicht, Auskunft zu geben. Das Eheleben der beiden war von beständiger gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt. Man ging sich aus dem Weg.
    »Und wann treten diese Schmerzen auf?«
    »Das ist es ja: immer nur montags morgens.«
    Doktor Bernhard Andree nahm im rechts vom Lebensmittelladen liegenden Gasthaus »Herzensfrische« eine Bewegung wahr. Ein Fenster wurde geöffnet, doch niemand zeigte sich. Der Gedanke, den Gasthof betreten zu müssen, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er drehte den Kopf in die andere Richtung, bis er die Tischlerei von Thomas Timber sehen konnte. Die beiden Gesellen standen rauchend vor der großen geöffneten Werkstattür, nutzten die Abwesenheit ihres Chefs für eine zusätzliche Pause. Der Arzt hatte den Tischler vor rund einer Stunde zu Fuß weggehen sehen, wahrscheinlich um in amtlicher Eigenschaft als Bürgermeister einen Besuch bei einem Bauern zu machen. Kurz darauf war auch seine Pflegetochter Katharina Freitag aus der Tischlerwerkstatt gekommen, in der sie vormittags die Büroarbeiten erledigte, diesmal aber wohl wesentlich länger zu tun gehabt hatte. Doktor Bernhard Andree hatte seine eigenen Ansichten über die regelmäßige Verwandlung Katharinas von der Bürokraft mit Rock und Bluse in die burschikos und nachlässig gekleidete nachmittägliche Wanderin. Eine Wandlung, die andere sich damit erklärten, daß sie abseits der Wege ging und dabei kein Dornengestrüpp scheute. Für den Arzt war sie ein geradezu klassischer Fall: Selbst aus einer verbotenen Beziehung entsprungen, konnte sie ihre eigene Sexualität nicht akzeptieren. Nun, er hatte ihr, zweifellos auf ungewöhnliche Weise, geholfen, den Konflikt zu bewältigen.
    Der Arzt nickte seinem Patienten zu. »Soso, montags?« Er räusperte sich. »Vielleicht sollten Sie montags morgens im Bett bleiben«, sagte er scherzhaft. Trotz mancher Versuchung, wie sein Vorgänger und andere Landärzte mit den bäuerlichen Patienten im vertraulichen Du zu verkehren, hatte er bewußt das Sie aufrechterhalten. Der mit dieser Distanz verbundene Respekt tat ihm gut. (Irgendwie war es sicherer.)
    »Das erzählen Sie mal meiner Frau.«
    Der Internist lächelte. »Machen Sie bitte den Oberkörper frei.« Er wies auf die lederbezogene Liege. Während der Bauer sich auszog, stellte sich der Arzt ans Fenster und befragte ihn nach Lebensgewohnheiten und Ernährungsweise.
    »Und ... äh, trinken Sie?«
    »Viel Wasser.«
    »Was?«
    »Sie wissen schon.«
    »Aha.« Der Arzt wußte, daß im Gasthaus sogenanntes Herzensacher Heilwasser ausgeschenkt wurde – ein vermutlich schwarzgebrannter Schnaps. »Und sonst?«
    »Ein Glas Bier, manchmal zwei.«
    »Es können aber auch ein paar mehr sein?«
    Er bekam nur ein Brummen als Antwort.
    »Aha«, diagnostizierte er.
    »Das wollen Sie mir doch nicht nehmen?!«
    Der Arzt blieb am Fenster stehen und sah auf seine Uhr. In Erwartung des kommenden Bildes biß er wütend die Zähne zusammen: Ein roter Wagen näherte sich, parkte vor seinem Haus. Der Fahrer stieg aus, ging über die Straße in das Geschäft von Dorothee Wischberg. Er kannte den Mann – asthmatische Beschwerden, leichtes Rheuma, ein Gärtner, der in der Weinsteiner Baumschule arbeitete und jeden Tag auf seinem Weg von und zu seiner Wohnung in Ehrenfelde hier anhielt, um sich Zigaretten zu kaufen, von deren Konsum Doktor Bernhard Andree hinsichtlich der geschädigten Bronchien dringend abgeraten hatte. Eine gemeine Provokation.
    Die Kirchturmuhr schlug, und Doktor Andree schüttelte den Kopf. Wieder kam der Glockenschlag drei Minuten zu spät. Seinem Freund, Pastor Pedus, war es trotz seines ausgeprägten Sinnes für Mechanik und seiner

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