Herzensach - Roman
letzten ockergelben Anstrich sorgsam ausgespart worden war. Es zeigte germanische Krieger, die mit Speeren bewaffnet an einem Fluß standen oder kniend Wasser daraus schöpften. Schließlich war er in die leere Gaststube getreten. Die große Zahl von Fliegen, die in dem Raum schwirrten, war das erste, was ihm aufgefallen war, wohl weil in der Gaststube ansonsten peinliche Sauberkeit herrschte und ein Geruch von Essig in der Luft lag.
Der Wirt schlug mit seiner Fliegenklatsche ein weiteres Mal ansatzlos zu, dann ließ er deren Stiel durch die Finger gleiten. Es war eine langgeübte Bewegung, und sie erinnerte an das geschmeidige Zurückgleiten eines Revolvers in seinen Holster. Vielleicht gab es unter Fliegen so etwas wie ein kollektives, sich vererbendes Bewußtsein. Generation auf Generation fanden sie sich in der Nähe Peter Wischbergs ein, um ihn todesmutig zu ärgern. Die Feindschaft hatte eine zweiunddreißigjährige Geschichte. Mit sechs Jahren hatte Peter seine erste Fliegenklatsche geschenkt bekommen, ein Gerät, von dem er sich von da an nicht mehr trennte. In der Schule brachte es ihm den Spitznamen »Fliegenpeter« und regelmäßige Maulschellen seiner Lehrerin ein. Die inzwischen pensionierte Studienrätin Emma Winkelmann hatte es gehaßt, im Unterricht durch Peters Fliegenklatsche gestört zu werden. Immer wenn der kleine Peter Wischberg während der Schulstunden zuschlug – oft tat er es unbewußt –, hatte sie ihm ebenfalls einen Schlag versetzt. Trotzdem wurde der Wirt unbeschadet aus der Schule ins Leben entlassen. Erst hier gelang es ihm, eine Frau so sehr zu reizen, daß sie ihn zum Krüppel machte. Seitdem nahm er zu.
Peter Wischberg sah den Fremden erwartungsvoll an.
»Und?«
Eben noch hatte der Wirt sich über die Pläne einer Ferienhaussiedlung am Lichter Moor gebeugt, die er mit Wilhelm Weber als Geldgeber seit Jahren bauen wollte, und so erschien es ihm, als sei der Student der Abgesandte einer nachfolgenden Schar von Erholungssuchenden. Die letzten zwei Abende hatte er mit Überlegungen verbracht, wie man den Tourismus in Herzensach ankurbeln könnte – auch ohne Unterstützung der Kreisverwaltung, die auf einem negativen Gutachten beharrte. Die Dorfbewohner hatten ebenfalls Vorbehalte und fürchteten um die Sicherheit ihres Ortes. Obwohl er mit seinen Plänen nicht vorankam, hing in den Gedanken des Wirtes aber das Werbeplakat bereits in den Reisebüros der ganzen Welt. Vielleicht sollte man dafür ein Bild Heidelinde Wulfs verwenden? (Nein, die würde nicht einwilligen. Reklame!) Dann eben doch ein Foto. Eine Luftaufnahme, die genau erkennen ließ, wie idyllisch das Dorf in die Windung der Herzensach, in Wald und Moor eingebettet war.
Der Wirt landete wieder, und die Enttäuschung stand ihm im Gesicht geschrieben, als er erfuhr, daß ein simpler Autounfall, ein Zufall, den Fremden nach Herzensach gebracht hatte. Doch er gedachte den Besuch auf andere Weise zu nutzen.
»Sagen Sie.« Er quetschte seinen Bauch, indem er sich vertraulich über den Tresen beugte, und ging nicht auf das Hilfeersuchen des Fremden ein. »Als Sie das Ortsschild sahen, wie haben Sie den Namen ausgesprochen?«
Jakob Finn runzelte die Stirn. Endlich fiel ihm ein, wo er das Gesicht des Wirtes schon einmal gesehen hatte. Es glich mit seiner runden Form, den kurzen, wirren blonden Haaren und dem Ziegenbart der pausbäckigen Sonne draußen auf dem Gemälde über der Eingangstür.
»Es gab kein Ortsschild.«
»Trotzdem«, beharrte der Wirt.
»Herzensach«, sagte Jakob vorsichtig.
»Genau, genau. Herzens-ach!« jubelte der Wirt und erklärte: »Niemand käme auf die Idee, Herzen-sach zu sagen. Diese ganze Untersuchung der Kreisverwaltung ist einen Dreck wert.«
Stolz betrachtete der Wirt den Studenten, bemerkte schließlich dessen Verwirrung und bemühte sich, die zitierte Untersuchung zu erläutern, nicht ohne dabei an passenden Stellen wütend einige Fliegen zu erlegen.
Als Entscheidungshilfe für die politischen Gremien hatte die Verwaltung ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem drei Orte des Kreises auf ihre touristische Tauglichkeit geprüft wurden. Dabei hatte Herzensach am schlechtesten abgeschnitten. In einem Nebensatz war dann auch noch auf die mißverständliche Aussprache des Namens und den möglichen negativen Beiklang hingewiesen worden. Die meisten Herzensacher kümmerte das wenig. Der Wirt vermutete aber, daß damit nur seine Pläne torpediert werden sollten.
Jakob Finn bereitete es Mühe,
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