Herzenstimmen
litt mit mir. Vermutete ich. Über Franks breites Gesicht flog ein spöttisches Lächeln. Als hätte er immer geahnt, dass der Tag käme, an dem ich den Druck nicht mehr aushalten und kläglich scheitern würde.
Du darfst ihnen nicht trauen, egal was sie sagen.
Die Stimme schnürte mir die Kehle zu. Ich war wie gelähmt. Vor meinen Augen begannen die Gesichter zu verschwimmen. Handschweiß. Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann.
»Julia. Ist dir nicht gut?«
Keiner wird dir helfen.
»Entschuldigung«, sagte ich.
Sofort herrschte wieder Ruhe. Es hatte lauter geklungen als nötig. Mehr ein Schrei als eine höfliche Bitte um Aufmerksamkeit. Ihre Blicke. Die folgende Stille. Mir schwindelte. Ich war dabei zu versagen.
»Möchtest du etwas trinken?«
Es klang besorgt. Oder täuschte ich mich? Musste ich mich in Acht nehmen?
Sag nichts. Schweig.
Vor mir tat sich ein dunkler Abgrund auf, der mit jeder Sekunde wuchs. Ich wollte mich verstecken, mich irgendwo verkriechen. Was war nur in mich gefahren? Ich hörte eine Stimme, laut und unmissverständlich. Eine Stimme, über die ich keine Kontrolle besaß. Eine Fremde. In mir. Ich fühlte mich immer kleiner werden. Kleiner und bedürftiger. Kein Wort würde ich von mir geben können, solange nicht Ruhe in meinen Kopf einkehrte. Ich griff mir an die Ohren und drückte einige Male kurz und kräftig, wie ich es tat, wenn das gelegentliche Rauschen zu laut wurde. Ich versuchte es noch einmal mit tiefem Ein- und Ausatmen und wusste sofort, dass es nichts nützen würde.
Sie meinen es nicht gut mit dir. Ihr Lächeln war nicht echt. Sie sind gefährlich.
Schreien. Sie mit meiner wahren Stimme übertönen. LASS MICH IN RUHE. SEI ENDLICH STILL. STILL. STILL.
Kein Wort. Nicht eins.
Mulligans und mein Blick trafen sich. Seine Stirn lag in Falten, die Lippen waren ein schmaler Strich, seine hellblauen Augen fokussierten mich. Ich begriff, dass mir in diesem Raum wirklich niemand helfen konnte. Ich musste raus. Sofort. Ich wollte auf die Toilette, in mein Büro, nach Hause, egal wohin, Hauptsache weg. Sie erwarteten einen Vortrag, sie erwarteten Ideen und Vorschläge, und wenn ich dazu nicht in der Lage war, erwarteten sie zumindest eine Erklärung für mein Verhalten. Eine Entschuldigung. Nichts davon konnte ich ihnen geben. Mir fehlte die Kraft. Ich hatte nichts zu sagen. Ein kurzes Zögern, dann richtete ich mich langsam auf, schob meinen Stuhl nach hinten und erhob mich. Meine Beine zitterten.
Was tust du?
»Julia, um Himmels willen, was ist mit dir los?«
Ich nahm meine Unterlagen, wandte mich ab und ging zur Tür. Mulligan rief etwas, aber ich verstand nicht mehr, was er sagte.
Ich öffnete die Tür, trat hinaus und schloss sie leise wieder.
Und jetzt?
Ich ging an den Toiletten vorbei den Gang zu meinem Büro entlang, legte die Akten auf den Tisch, nahm meinen Mantel, steckte U Bas Brief in meine Handtasche und verließ, ohne Hast und ohne ein weiteres Wort, die Kanzlei.
Ich ahnte noch nicht, dass ich mich, ohne mir dessen bewusst zu sein, auf den Weg gemacht hatte.
An diesem klirrend kalten, wolkenlosen Herbsttag in der Woche vor Thanksgiving.
2
S ie erinnerte sich nicht mehr an jede Einzelheit. Ein Ziehen im Bauch, ein leichtes zunächst. Eines, dem man keine Beachtung schenken musste. Sie saß am Fenster und schaute hinaus. Ein wolkenloser Morgen. Unter ihnen lag Hartford.
Das Ziehen nahm zu. Ein unangenehmer Schmerz, aber vermutlich ganz normal für die ersten Wochen. Glaubte sie. Wollte sie glauben.
Niemand hatte sie gewarnt. Niemand hatte ihr gesagt, was auf dem Spiel stand. Oder doch? Sich schonen, Stress und Aufregung vermeiden. Keinen Alkohol. Was Ärzte so sagen, hatte sie gedacht. Möglichst nicht fliegen. Möglichst. Nicht: auf keinen Fall.
New Yor k– Boston. Flugzeit nicht einmal eine Stunde. Was sollte da passieren?
Natürlich hätte sie den Zug nehmen können. Fünf Stunden. Kurz hatte sie daran gedacht. Der Termin war um 10 Uhr und nicht zu verlegen. Sie hätte am Abend zuvor fahren müssen. Umständlich und zeitaufwendig.
Möglichst. Nicht: auf keinen Fall. Wir hören nur, was wir hören wollen.
Retroamniales Hämatom. Sie konnte sich darunter nichts vorstellen. Ein Bluterguss hinter der Gebärmutter. Es klang in ihren Ohren nicht besorgniserregend, auch wenn das Gesicht des Arztes eine andere Geschichte erzählte. Von der wollte sie nichts wissen. Ein Bluterguss war ein Bluterguss und nichts Bedrohliches, dachte sie,
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