Herzenstimmen
dann die Enttäuschung darüber, dass ich mit achtunddreißig Jahren wieder in derselben Wohnung lebte wie mit achtundzwanzig. Es fühlte sich wie ein Rückschritt an. Ich war vor vier Jahren ausgezogen, weil ich nicht mehr allein, sondern mit Michael leben wollte. Die Wohnung erinnerte mich jeden Tag aufs Neue daran, dass dieser Versuch gescheitert war.
Warum bist du allein?
Dieselbe Stimme. Kein Flüstern mehr, aber immer noch leise. Sie ging mir durch den ganzen Körper, ließ mich erschauern.
Warum bist du allein?
Sie klang näher, dringender als im Büro. Als wäre jemand an mich herangerückt.
Warum antwortest du mir nicht?
Mir wurde heiß. Wieder begann mein Herz schneller zu schlagen. Handschweiß. Die Symptome von heute Morgen. Ich konnte nicht still sitzen, stand auf und ging in meinem kleinen Wohnzimmer auf und ab.
Warum bist du allein?
– Wer sagt, dass ich allein bin?
Würde sie Ruhe geben, wenn ich ihr antwortete?
Wo sind denn die anderen?
– Welche anderen?
Dein Mann.
– Ich bin nicht verheiratet.
Hast du keine Kinder?
– Nein.
Oh.
– Was heißt oh?
Nichts. Es ist nur … keine Kinder … das ist traurig.
– Nein. Ist es überhaupt nicht.
Wo ist dein Vater?
– Der ist tot.
Und deine Mutter?
– Die lebt in San Francisco.
Hast du keine Geschwister?
– Doch, einen Bruder.
Warum ist der nicht hier?
– Er lebt auch in San Francisco.
Bist du hier bei deinen Onkeln und Tanten geblieben?
– Ich habe keine Onkel und Tanten.
Keine Onkel und Tanten?
– Nein.
Warum lebst du dann nicht bei deiner Familie ?
– Weil es nicht schlecht ist, wenn ein Kontinent zwischen uns liegt.
Also bist du doch allein.
– Nein. Ich bin nicht allein. Ich lebe nur allein.
Warum?
– Warum? Warum? Weil ich es so schöner finde.
Warum?
– Du gehst mir auf die Nerven mit deinem Warum.
Warum lebst du allein?
– Weil ich es hasse, in der Nacht vom Schnarchen eines Mannes geweckt zu werden. Weil ich am Morgen lieber in Ruhe meine Zeitung lese. Weil ich Barthaare im Waschbecken nicht mag. Weil ich mich nicht rechtfertigen möchte, wenn ich um Mitternacht aus dem Büro komme. Weil ich es liebe, niemandem etwas erklären zu müssen. Kannst du das verstehen?
Schweigen.
– Hallo? Kannst du das verstehen?
Stille.
– Hallo? Warum sagst du nichts mehr?
Ich blieb stehen und wartete. Das sonore Brummen des Kühlschranks, Stimmen auf dem Flur, eine zufallende Tür.
– Wo bist du?
Das Telefon klingelte. Amy. Sie merkte an meinem Ton, dass etwas nicht stimmte.
»Geht es dir nicht gut?«
»Doch.«
Warum sagst du schon wieder die Unwahrheit?
Als hätte mich jemand von hinten mit Wucht gestoßen. Ich stolperte und hätte fast das Gleichgewicht verloren.
»Es, es ist nur …«, stammelte ich verwirrt.
»Julia, was ist los mit dir?«, fragte sie erschrocken. »Wollen wir uns sehen? Soll ich zu dir kommen?«
Ich wollte raus aus meiner Wohnung.
»Ich … ich komm lieber zu dir. Wann hast du Zeit?«
»Wann du willst.«
»Ich bin in einer Stunde bei dir.«
4
A my Lee lebte in zwei kleinen Studios in der Lower EastSide. Sie lagen nebeneinander im obersten Stock eines dreistöckigen Hauses. Ein Apartment nutzte sie zum Wohnen, das andere zum Arbeiten. Für mich hatte es in den vergangenen Jahren keinen Ort gegeben, an dem ich mich mehr aufgehoben fühlte. Wir verbrachten ganze Wochenenden auf ihrem Sofa, guck ten »Sex and the City«, aßen Eis, tranken Rotwein, machten uns über Männer lustig oder trösteten uns gegenseitig, wenn wir unter Liebeskummer litten.
Amy und ich hatten uns gleich zu Beginn unseres Jurastudiums, Schwerpunkt Wirtschaftsrecht, an der Columbia-Univer sität kennengelernt. Beim Ausfüllen eines Formulars hatten wir durch Zufall entdeckt, dass wir am selben Tag geboren wurden, sie in Hongkong, ich in New York. Sie hatte die ersten neunzehn Jahre ihres Lebens in Hongkong verbracht und war von ihren Eltern zum Studieren nach Amerika geschickt worden. Amy behauptete, ein Astrologe hätte ihr schon in Hongkong prophezeit, dass sie jemandem mit denselben Geburtsdaten begegnen würde, der sie ihr Leben lang begleiten würde, und so hatten wir, fand sie, gar keine andere Wahl, als Freundinnen zu werden.
Ich glaubte damals nicht an Astrologie, aber ich mochte Amy sofort. Wir ergänzten uns, wie ich es zuvor noch nie mit einer Freundin erlebt hatte.
In vielen Dingen war sie das genaue Gegenteil von mir: Einen Kopf kleiner, kräftiger, sie färbte ihre schwarzen Haare
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