Herzraub
der Vater die Hand auf das Herz des türkischen Jungen legt. Also auf das Herz seiner toten Tochter.“
„Eben, Werner. Die fühlen sich jetzt ganz toll. Als Lebensretter und Samariter, die dafür in den Himmel kommen.“
Danzik lachte trocken auf. „Ich wusste gar nicht, dass du an Himmel und Hölle glaubst.“
„Ich meine nur“, fuhr Tügel unbeirrt fort, „warum sollten die Osswald-Spender da anders reagieren?“
„Kann sein. Man weiß einfach zu wenig, was da abläuft.“ Über so etwas wie Transplantation, Spenderausweise usw. hatte er sich noch nie ernsthaft Gedanken gemacht. Unvermittelt schob sich das schöne Gesicht von Laura Flemming in seine Gedanken. Er fühlte eine Sehnsucht, die ihm schon fast abhanden gekommen war. Er musste sie wieder sehen, in ihre kühlen blauen Augen schauen, ihre angenehm temperierte, leicht spöttische Stimme hören. Sie würde ihm alles über diese komplizierte und heikle Thematik sagen können.
„Werner, was ist los? Hörst du mir überhaupt zu? Wir sollten uns jetzt auf diese Wartelisten-Familie konzentrieren. Die haben ja wohl wirklich ein Rache-Motiv.“
Danzik stellte das leere Glas ab. „Die junge Frau, die gestorben ist, weil man die Osswald angeblich vorgezogen hat.“
„Genau.“
„Gut, gehen wir’s an.“ Danzik winkte der Serviererin.
Nach dem verspäteten Imbiss – es war inzwischen schon halb vier – eilten sie ins Büro zurück, und Danzik suchte im Telefonbuch nach dem Namen ›Kanitz‹. Die verstorbene Marita Kanitz stand noch immer drin, als Adresse war die Straße ›Saseler Mühlenweg 10 c‹ angegeben. Dann noch einmal dieselbe Adresse mit den Namen ›Gerhard und Traudel Kanitz‹. Offenbar hatte die Tochter noch im Hause gelebt, nach dem Motto ›Hotel Mama‹, aber vielleicht war es ja wirklich ein enges, liebevolles Verhältnis gewesen. So liebevoll, dass auch ein Rachemord vorstellbar war?
„Das ist ja Sasel, also j.w.d.“, meinte Tügel. „Gehört das überhaupt noch zu Hamburg?“
„Ja, tut es. Ich denke, wir werden zirka 40 Minuten brauchen.“
„Melden wir uns an? Ich meine bei der langen Anfahrt …“
„Nein, das riskieren wir jetzt“, bestimmte Danzik. „Das wird ein Überfall. Schließlich soll ja was dabei rauskommen. Die sollen keine Sekunde Zeit kriegen, sich vorher was abzusprechen.“
„Und wenn der Mann noch bei der Arbeit ist?“
„Wieso nur der Mann?“ Danzik grinste amüsiert. „Ich dachte, deine Jahrgänge wären etwas emanzipierter.“
„Na ja, wenn sie nun beide noch nicht zu Hause sind …“
„Weißt du was, wir machen jetzt mal was ganz Unanständiges und starten einen Testanruf. Anrufen und gleich wieder auflegen.“
Danzik wählte die Nummer und machte seinem Kollegen ein Zeichen, den Mund zu halten. Mit angehaltenem Atem lauschte er in den Hörer.
„Kanitz?“ Der Kommissar legte sofort auf.
„Eine weibliche Stimme. Die Dame des Hauses ist da.“
„Sag ich doch. Von wegen emanzipiert.“ Torsten Tügel haute triumphierend seinen Kuli auf den Tisch.
„Also, auf geht’s. Alles Weitere wird sich finden.“
11
Sie fuhren in Richtung Norden. Durch Ohlsdorf, am Ohlsdorfer Friedhof vorbei, nach rechts in die einspurige Wellingsbüttler Chaussee, auf der man sich ein Überholen gleich abschminken konnte, sie kamen durch Wellingsbüttel und Poppenbüttel, wo Vorortvillen in alsternahen Gärten einen neidisch machen konnten, dann ging es über die Stadtbahnstraße auf die Saseler Chaussee.
„Jetzt links runter“, sagte Tügel, der einen Stadtplan vor sich hatte.
Danzik bog ab und steuerte zügig auf einen großen, nur mit wenigen Autos belegten Parkplatz zu. Die letzten fünfzig Meter gingen sie zu Fuß. Vor ihnen lag eine helle, eingeschossige Reihenhaus-Siedlung, die ›10c‹ fanden sie erst, als sie in ein paar Zugängen nach den Nummern gesucht hatten.
Im Vorgarten winkten ihnen drei Gartenzwerge entgegen, auf dem Treppchen zum Haus standen präzise gestaffelt ein paar Kübel, in denen verschiedenartige Pflanzen vergilbten. An der Tür hing ein ziemlich dekorativer Trockenkranz. Danzik läutete, und es ertönte ein langpausiges, melodisches Klingeln.
Kurz darauf zeigte sich hinter der Voilegardine am daneben liegenden Fenster ein weibliches Gesicht, dann wurde die Haustür bis zur Kette aufgesperrt.
„Ja, bittschön, was wünschen Sie?“ Unverkennbar der charmante Akzent einer Österreicherin, wie die Kommissare registrierten. Sie zückten ihre
Weitere Kostenlose Bücher