Herzraub
nicht mehr.
Nun wurde der Schnitt mit einem elektrischen Messer vertieft. Blutstillung. Der Chirurg schnitt tiefer, alle Schichten wurden durchtrennt. „Bauchtuch – Messer.“ Und wieder Zerschneiden, Zerteilen. Diesmal von der Mittellinie ausgehend, auf der linken Seite zum Beckenkamm ziehend. Erneut Blutstillung. Dann wieder die Durchtrennung aller Schichten mit dem elektrischen Messer. Der spitzwinklige Bauchdeckenlappen, der durch diese Schnittführung entstanden war, wurde nach außen geklappt und mit einer Klemme fixiert. Noch einmal wiederholte sich das Schneiden auf der anderen Seite und endete mit dem Fixieren des Bauchdeckenlappens.
Jetzt lag Alexander mit einer riesigen Wundhöhle da, die lebenden Organe schutzlos vor aller Augen und Händen. Alles war bereit, damit die Entnahme-Ärzte, die jede Sekunde eintreffen mussten, sich ihrer bedienen konnten.
Je nach ihrer unterschiedlichen Haltbarkeit mussten die Organe in einer bestimmten Reihenfolge entnommen werden: zuerst Herz und Lunge – sie lassen sich nur vier Stunden konservieren – , dann Leber, Bauchspeicheldrüse, Nieren und zuletzt die Augen.
„Perfusion“, sagte Doktor Rapp, und die OP-Schwester begann, die Schutznährlösung vorzubereiten. Mit dieser ›kalten Perfusion‹ würde man die Organe im Restkörper durchspülen, damit sie während des Transports nicht absterben konnten.
In diesem Moment hörte man, wie draußen vor den Fenstern ein vibrierendes Knattern die mitternächtliche Stille durchbrach und dann verebbte. Der Hubschrauber mit den Explantationsärzten hatte auf dem kleinen, kreisförmigen Landeplatz aufgesetzt.
„Pinzette – Schere“, befahl der Chirurg und begann mit der Präparation der Hohlvene, während die OP-Schwester für die Spülung Eis zerkleinerte und auf Schüsseln verteilte.
Plötzlich flog die Tür auf, und wie angekündigt und erwartet stürmte das Explantationsteam herein – drei Ärzte, begleitet von der Transplantationskoordinatorin Wibke Pohl. Während sich zwei von ihnen die Hände desinfizierten, stellte der dritte eine Kühlbox und einen Koffer ab. Dieses Team würde Alexander das Herz rausnehmen, die nachfolgenden würden sich um die Innereien und die Augen kümmern.
Die OP-Schwester nahm die Kanister mit der Nährlösung, füllte sie in die Schüsseln und leitete sie per Spülsystem durch Alexanders Organe. Während die eiskalte Lösung den Körper durchdrang – plötzlich ein unterdrückter Schrei. Er kam von der OP-Schwester, die panisch auf den Toten zeigte. Der zuckte mehrmals mit den Armen – eine letzte Antwort auf diesen vielleicht für ewig traumatisierenden Schock.
„Das sind nur Reflexe“, sagte einer der Chirurgen und sah die Schwester kopfschüttelnd an. „Kann ich das Herz jetzt endlich entnehmen? Wir haben hier keine Zeit zu verplempern.“
„Bitte.“ Sie reichte ihm die Instrumente.
„Wo ist denn die Säge?“
„Eine Säge haben wir nicht. Wir haben nur Ste-rummeißel und Hammer.“
„Na, das ist ja vielleicht ein Laden! Herbert“ – er wandte sich an einen der Kollegen – „nimm unsere Instrumente aus dem Koffer!“
Der Kollege öffnete den Koffer und gab der OP-Schwester das Instrumentensieb. Die schaute irritiert: Die Säge, ein ihr unbekanntes Fabrikat, musste erst zusammengesetzt werden. Nachdem sie, mit immer röter werdendem Kopf, mehrere erfolglose Versuche gestartet hatte, gelang es ihr endlich, das Ding funktionstüchtig zu machen. Letzte Sekunde. Die Zeit drängte, die Organe durften nicht verderben. Am empfindlichsten war das Herz, es musste jetzt schnell auf den Weg gebracht werden. Auf den Weg in die Herz-Station der Uni-Klinik. Dort wartete bereits fiebernd und aufgeregt der Empfänger, der Alexanders Herz erhalten sollte.
Der Chirurg setzte die Säge an und durchtrennte mit ihr der Länge nach das Brustbein. Er öffnete den Herzbeutel – und da wurde es sichtbar, das schlagende Herz des ›toten‹ Alexander Osswald.
„Was für ein schönes Herz!“, sagte der Chirurg. Er legte es schnell in einen Beutel mit eisgekühlter Ringer-Lösung, dann diesen in einen anderen Beutel, der ebenfalls mit eisgekühlter Ringer-Lösung gefüllt war. Und ab in die Kühlbox damit. Die schnappte sich Transplantationskoordinatorin Wibke Pohl, die für den Transport verantwortlich war. Währenddessen zog sich der Chirurg die Gummihandschuhe aus, schnippte sie in den Saal und riss sich den Mundschutz ab. Fünfzehn Minuten hatte die Aktion gedauert, dann
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