Heurigenpassion
universitären Freunden umgebenen Alten hatte er bisher vermieden.
Jetzt konnte es aber haarig werden. Tante Anita schien plötzlich wild entschlossen, die durch ihn befleckte Familienehre wieder zu entflecken. Sie baute sich plötzlich vor Palinski auf, maß ihn von oben bis unten und setzte zum verbalen Rundumschlag an.
»Was haben Sie unmöglicher Mensch eigentlich für eine Entschuldigung dafür, hier mit fast drei Stunden Verspätung in einem derart abgerissenen Zustand zu erscheinen ?« , wollte sie wissen.
»Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich Wilma versprochen habe, hierher zu kommen«, erwiderte er.
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie der Einladung von Elisabeth und Wilfried nur Folge geleistet haben, um Wilma einen Gefallen zu tun ?« Die Dame wollte es genau wissen.
»Das stimmt und auch wieder nicht. Denn ich bin nicht eingeladen worden, zumindest nicht als Person. Sondern nur als unvermeidliches Anhängsel, als Vater der Kinder der Tochter des Hauses. Sozusagen als Mahnmal für die juvenile Triebhaftigkeit Wilmas und Warnung an die heutige Jugend.« Wilma war blass geworden und deutete Palinski, mit der unsinnigen Tirade aufzuhören.
Aber Tante Anita dachte nicht daran, ihm eine Chance zu geben. »Und wieso kommen Sie erst jetzt ?« Neugierig war sie gar nicht, fand er. Vielleicht hatten sie aber die anderen auch nur beauftragt, alles aus ihm herauszu- kitzeln. Den Leuten konnte geholfen werden.
»Heute Morgen wurde eine junge Mutter tot aufgefunden. Erschlagen von irgendeinem brutalen Saukerl. Und irgendwo da draußen gibt es ein zwei Monate altes Kind, das nach seiner Mutter schreit, seit 24 Stunden keine Milch mehr erhalten hat und langsam, aber sicher in seinem eigenen Kot versinkt .« Er unterbrach sich kurz und blickte in die Runde, um die Wirkung seiner Worte zu erkunden.
»Seit Mittag sind inzwischen mehr als 600 Menschen unterwegs, um dieses Kind zu finden. Und ich war einer davon und werde in Kürze wieder einer sein .« Trotzig blickte er Tante Anita in die kurzsichtigen Augen.
Aber statt beeindruckter Zustimmung erntete Palinski lediglich ein »Das ist sicher wieder so ein Schwindel von dir, Palinski .« Es war Wilmas Cousin Albert, dem dieses geistreiche Statement zu verdanken war. Albert war der fleischgewordene Beweis für die nicht nur von Wilma vertretene These, dass man sich seine Verwandten nicht aussuchen konnte.
»Lieber Albert, du willst also damit zum Ausdruck bringen, dass ich schwindle, lüge und das immer wieder«, Palinski hatte mit einer derart dummen Attacke nicht gerechnet. »Habe ich das richtig verstanden ?«
»Nicht immer wieder, Palinski«, blökte Albert los, »sondern immer. Du schwindelst immer, du Wurschtel .« Er sprach das mehr abfällig als liebevoll gemeinte Synonym für »Hanswurst« mit dem typisch wienerischen »sch« aus. »Du bist ein Wurschtel. Das sagt auch Wilma .«
Jetzt wurde es persönlich. Palinski blickte zur Mutter seiner Kinder, doch die winkte beschwörend ab. Der gestreckte Zeigefinger an ihrer Stirne ließ deutlich erkennen, was sie von ihrem Cousin hielt. Und er glaubte ihr.
»Also gut«, Palinski kam langsam in Fahrt. »Angenommen, es trifft zu, was du eben behauptet hast. Und ich Wurschtel stelle fest, dass ich immer lüge. Was würde das bedeuten ?«
»Nicht lügen, ich habe schwindeln gesagt«, stellte Albert richtig.
»Lügen, schwindeln, das ist im Wesentlichen das gleiche. Also nochmals: Ich stehe hier und sage, dass alle Wurschteln lügen. Was bedeutet das ?«
»Das heißt, dass du schwindelst, Palinski .«
»Richtig, Albert, denn wenn ich ein Wurschtel bin und alle Wurschtel lügen, dann lüge auch ich. Aber was bedeutet das darüber hinaus noch ?«
Wilma schwante Schlimmes. Falls ihr Mario so weiter machte, würden sie in Kürze tief in eine philosophische Diskussion verwickelt sein. Und bis Mitternacht würde ihr Mann alle in Grund und Boden geredet haben. Sie hatte das schon mehrmals erlebt. Vielleicht konnte wenigstens Papa ihm Paroli bieten.
»Wenn ich also immer lüge, dann bedeutet das aber, dass ich auch in diesem Fall gelogen habe. Dass ich demnach gelegentlich doch die Wahrheit von mir gebe. Also möglicherweise auch jetzt, wenn ich sage, dass ich Wurschtel lüge.« Er holte kurz Luft, ehe er das Perpetuum mobile in Gang setzte. »Ab hier fängt das Ganze wieder von vorne an. Ist das soweit klar ?«
»Also ich verstehe nur Bahnhof«, maulte der Ignorant Albert, »das ist doch alles Blödsinn
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