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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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brannten vereinzelte Straßenlaternen. Sina hörte, wie irgendwo in der Finsternis die Motoren einiger Automobile gestartet wurden, dann verschwanden auch die letzten Filmleute vom Gelände. Das große Haupttor schloß sich knirschend auf seiner Eisenschiene. Die Filmstadt gehörte den Nachtwächtern.
    Vor zwei Stunden hatte Sina zu frieren begonnen. Sie hatte sich schützend hinter die falschen Zinnen gekauert, doch der Wind pfiff durch die Scharten und ließ sie vergessen, daß der Frühling schon ein paar Wochen alt war.
    Vorsichtig kletterte sie von der Burgmauer und drückte sich entlang der Kulisse zur Sperrholzkirche und dem verfallenen Friedhof, auf dem nie ein Mensch begraben worden war. Die Szenerie, ganz gleich wie künstlich, trug nicht gerade zur Besserung ihrer Stimmung bei.
    In der Dunkelheit bellte ein Hund, weit genug entfernt, um keine Gefahr zu bedeuten. Ein zweites Tier fiel ein, dann ein drittes und viertes. Die beiden letzten klangen deutlich näher. Man hatte Sina gewarnt, daß bei Nacht Wachhunde über das Gelände liefen, hungrig und ohne Ketten. Sina hatte nicht gewußt, wie sie sich dagegen schützen sollte, deshalb ließ sie es einfach darauf ankommen. Irgendwie mußten ja auch die Teilnehmer der Zusammenkunft zur Halle gelangen. Fraglos waren die Nachtwächter bestochen und würden ihre Bluthunde lange genug im Zaum halten.
    Sina schlich zwischen den unbeleuchteten Flachbauten hindurch, an der dunklen Kantine vorüber, bis sie von einer Ecke aus wieder die Halle sehen konnte. Das große Tor lag gleichfalls im Finsteren, aber links von ihr zuckte ein Schatten durch den Lichtkreis einer Straßenlaterne. Erst glaubte sie, es sei doch einer der Hunde, aber dann bemerkte sie, daß es ein Zwerg war. Der Liliputaner rannte mit wackelnden Stummelarmen auf die Atelierhalle zu und verschwand in der Dunkelheit vor dem Tor. Metallscharniere quietschten, als eine Seitentür geöffnet und wieder geschlossen wurde.
    Als hätte der kleine Mann ein Zeichen gegeben, lösten sich nun weitere Gestalten aus der Finsternis, so unvermittelt, daß Sina sich erschrocken umschaute, ob nicht auch in ihrer Nähe jemand auf der Lauer lag.
    Mehrere Männer und Frauen eilten wortlos auf die Halle zu, einige rannten, andere gingen mit zügigen Schritten. Von Hunden und Nachtwächtern war nichts zu sehen, nur in weiter Ferne erklang erneutes Bellen. Die bestochenen Wachtposten hatten ihre Tiere in die äußeren Winkel des Geländes abgezogen.
    Das knappe Dutzend Menschen durchquerte die Lichtinseln der kargen Straßenbeleuchtung, dann knirschte erneut die Seitentür. Diesmal blieb sie offen, damit auch jene, die noch erwartet wurden, den Weg dorthin fanden.
    Zehn Minuten später waren zwanzig weitere Personen eingetroffen. Insgesamt machte das etwa dreißig, wobei andere sich bereits in der Halle aufgehalten haben mochten. Sina hoffte, daß noch einige hinzukamen, denn um so größer war die Chance, daß sie zwischen ihnen unentdeckt blieb.
    Zum dritten Mal an diesem Tag überprüfte sie ihre Waffe, dann trat sie hinter der Ecke hervor auf den Weg. Eilig, ohne weiterhin zu versuchen, ungesehen zu bleiben, strebte sie auf die Halle zu.
    Die offene Tür rückte näher. Sina spürte eine Gänsehaut auf ihren Armen. Nur die Kälte, dachte sie. Fahler Lichtschein fiel durch das Rechteck auf den Boden. Der Abfall, den die Komparsen am Nachmittag hinterlassen hatten, lag noch auf dem Pflaster: Becher, zerbrochene Löffel, sogar eine zerknüllte Hose, die vergessen worden war. Konnte es sein, daß ein Mann das Studio mit nackten Beinen verlassen hatte? Oder hatte ihm die graue Komparsenhose soviel besser gefallen?
    Sina betrat die Halle. Sie erkannte riesenhafte Formen, Umrisse der vorderen Dekorationen, die von einem Lichtschein an der Rückseite aus dem Dunkel gerissen wurden. Gleich hinter der Tür stand ein Mann. Als er einen Schritt nach vorne machte und sein Gesicht aus den Schatten stieg wie ein toter Fisch zur Oberfläche, da sah sie, daß er lächelte. Freundlich, nicht heimtückisch.
    »Willkommen, Schwester«, sagte er. »Bitte, leg deine Kleidung ab.«
    »Meine Kleidung?« fragte sie irritiert und wußte gleich, daß das ein Fehler war. Wenn sie vorgab, eine der ihren zu sein, mußte sie mit den Regeln vertraut sein.
    Der Mann musterte sie einen Augenblick lang verwundert, dann lächelte er wieder. »Du bist neu, nicht wahr? Ich kenne dich nicht.«
    »Ganz neu«, gab sie schnell zurück, weil ihr nichts Besseres

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