Hexengericht
folgen sollten.
Das Haus mit den roten Schindeln
P ierre, d’Aubrac und dessen Männer benötigten zwei Monate, bis sie vor den Toren von Ardon standen. Pierre verabschiedete sich herzlichst von ihnen und betrat mit zitternden Knien das Dorf. Wo stand das Haus mit den roten Schindeln?
Er streifte durch das Dorf, fand das Haus jedoch nicht. Er wollte schon auf sein Pferd steigen, um, tief enttäuscht von Lunas falscher Prophezeiung, weiterzuziehen, als sein Blick auf eine kleine Schmiede fiel. Sie stand auf einem Feld, abseits der Straßen und Gassen. Im Garten vor dem Haus wuchsen Kräuter, Äpfel und Pflaumen. Zwischen den Bäumen stand eine Frau von etwa dreißig Jahren. Aus der Schmiede drangen die Geräusche eines schweren Hammers, der auf einen Amboss schlug. Und auf dem Dach der Schmiede: leuchtend rote Schindeln! Pierres Herz raste.
Er ließ das Pferd stehen und ging auf die Frau zu. Da entdeckte sie den Fremden. Mit einer Hand schützte sie die Augen vor der Sonne. Plötzlich stieß sie einen erstickten Schrei aus, schlug die Hände vor den Mund und schwankte leicht. Dann ging sie Pierre langsam entgegen. Als sie einander gegenüberstanden, wusste Pierre nicht so recht, was er tun sollte. Die Frau musterte ihn von oben bis unten und begann zu weinen.
Endlich verstand Pierre. Er erinnerte sich, dass er einst Luna erzählt hatte, dass er seine Eltern nicht kannte, dass er beim alten Bertrand aufgewachsen war. Luna hatte damals gelächelt und gesagt, sie hoffe, dass er seine Eltern eines Tages finden würde. Ob sie schon damals wusste, wo seine Eltern lebten? Mit ihrer letzten Prophezeiung hatte sie ihn zu Vater und Mutter geführt. Diese kleine schlanke Frau mit den braunen Augen und dem zum Zopf geflochtenen schwarzen Haar … sie war seine Mutter. Sie hatten noch kein Wort miteinander gewechselt, und doch wussten beide um die Bande zwischen ihnen. Jetzt stürzten die Tränen auch aus seinen Augen. Sie sanken zu Boden, umarmten sich und weinten vor lauter Freude.
Der Schmied, wohl durch das merkwürdige Heulen aufmerksam geworden, erschien im Garten. Suchend blickte er sich um. Er entdeckte seine Frau und den Fremden, die sich schluchzend in den Armen lagen, und schien zu verstehen. Erst ging er langsam, dann immer schneller zu den beiden hin und schloss sie in seine Arme. Pierre hatte Mutter und Vater, die er nie gekannt hatte, endlich gefunden.
Später erzählten seine Eltern ihm, was damals vor achtzehn Jahren geschehen war. Pierre war gerade ein Jahr alt gewesen, als das Dorf von marodierenden Engländern heimgesucht wurde. Sie raubten alles, was sie zu tragen vermochten, einschließlich einiger Kinder, die sie später zu Geld machten, indem sie sie verkauften. Pierres Vater versuchte noch unter großer Gefahr, die Engländer zu verfolgen, hatte jedoch ihre Spur bald verloren.
Anschließend berichtete Pierre von seinem Leben. Seine Eltern wollte alles ganz genau erfahren. Kein Detail schien ihnen unbedeutend, kein Ereignis nicht erzählenswert. So schilderte Pierre ihnen, wie er beim alten Bertrand und Agnès aufgewachsen war, wie sie ihn zaubern und jonglieren lehrten. Berichtete von seinen unzähligen Reisen, seinen Auftritten auf Marktplätzen und bei Festlichkeiten. Dann gelangte er an den Punkt, als er in Rouen Luna traf, sie befreite und gemeinsam mit ihr, Bruder Raphael, Jeanne und Amicus den bösen Henri zur Strecke brachte. Seine Eltern lauschten den Erzählungen mit offenem Mund. Die ganze Nacht lang redeten und lachten sie miteinander. Als der Morgen graute, legte sich Pierre zum ersten Mal in seinem Elternhaus zu Bett.
EPILOG
I n den folgenden Jahren lernte Pierre von seinem Vater das Schmiedehandwerk. Es wurde ein guter Schmied aus ihm, geschickt und kunstfertig. Mit der Zeit wurden seine Arme muskulös und stark, und aus dem schmächtigen Bürschlein wurde ein kräftiger, stattlicher Mann. Doch ein Weib zur Frau nehmen wollte er nie. Obwohl es an ansehnlichen jungen Mädchen nicht mangelte.
Die Jahre vergingen. In einem Herbst starb seine Mutter schnell und unerwartet. Sein Vater folgte ihr ein Jahr später. Fortan führte Pierre die Schmiede allein weiter. Tagsüber arbeitete er, abends saß er entweder im Garten auf einer Bank oder schaute bei Regen aus dem Fenster. Die Bewohner von Ardon hielten ihn für einen sonderbaren Gesellen und blieben fern.
Nur ein junger Knabe aus der Nachbarschaft mit Namen Didier besuchte den wunderlichen Schmied. Sie verbrachten viel Zeit
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