Hexengericht
Mosis, die da lauten: Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen. Wenn ein Mann oder Weib Wahrsager und Zeichendeuter sein wird, die sollen des Todes sterben, man soll sie steinigen, ihr Blut sei auf ihnen. «
Raphael unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, seine Position zu stärken. »Ehrwürdiger Vater«, sagte er, »selbst der heilige Dominikus und sein Bischof Diego machten Bekanntschaft mit der Häresie der Katharer. Sie waren bereit, von ihnen zu lernen.«
Von einem Moment zum anderen verwandelte sich Henris Hochmut in unbändigen Zorn. »Die Katharer waren gottlose Ketzer!«, fauchte er. »Ich verbiete Euch, jemals wieder von ihnen zu sprechen!«
Eingeschüchtert mied Raphael Henris strengen Blick. Ratlos starrte er auf den Schädel seines Pferdes, der sich im Rhythmus des Trittes hob und senkte. Warum brachte die Erwähnung der Katharer Henri so auf? Sie existierten längst nicht mehr. Nach den Albigenserkriegen vor mehr als einem Jahrhundert waren sie fast gänzlich ausgerottet worden, und die Inquisition hatte ihnen anschließend endgültig den Garaus gemacht.
Am Horizont erschienen die ersten Höfe vor den Toren der Stadt Rouen. In der Ferne sah man einige Gestalten, die ihre Äcker bewirtschafteten. Henri ritt auf sie zu.
»Wer lebt dort?«, fragte Henri. Er zeigte auf einen kleinen Hof.
»Der Bauer Jean Brillon, Vater«, antwortete Raphael.
»Frei?«
»Ein unfreier Bauer, Vater. Er und seine Familie sind Leibeigene des Klosters.«
Als Jean Raphael erblickte, winkte er freudestrahlend und rief Frau und Kinder aus dem Haus. Lisette richtete ihr Haar, und die beiden Söhne liefen den Mönchen lachend entgegen. Als sie Henris Gesicht aus der Nähe sahen, stockten sie mitten im Lauf. Verunsichert lächelten sie Raphael zu, warfen einen verstohlenen Blick auf Henri und rannten zurück zu ihren Eltern, um sich hinter ihrer Mutter zu verstecken.
Vor dem Haus stieg Raphael ab. Mit ausgestreckten Händen ging er auf Jean und Lisette zu. »Gott mit Euch«, sagte er und strich den beiden Knaben über das dunkle Haar. »Ich möchte Euch den ehrwürdigen Vater Henri vorstellen. Seit heute Prior von St. Albert.«
Jean legte als Erster seine Beklommenheit ab. Er ging auf Henri zu. »Ehrwürdiger Vater, seid willkommen auf meinem bescheidenen Hof.«
Verächtlich fielen Henris Mundwinkel herab. »Bescheiden in der Tat«, sagte er von seinem Pferd herunter und sah sich um. »Warum bestellst du nicht sämtliche Felder? Sprich!«
»Ehrwürdiger Vater«, stammelte Jean. »Seit Generationen betreiben wir auf diesem Land die Dreifelderwirtschaft. Ein Drittel liegt immer brach.«
»Reicht mir die Unterlagen«, verlangte der Prior von Raphael.
Der ging hinüber zu seinem Pferd und nahm aus den Satteltaschen ein Bündel Schriftrollen. Eine davon gab er Henri.
»Wohlan denn«, murmelte Henri und studierte das Papier. »Laut Vertrag bist du verpflichtet, jedes Jahr 200 Scheffel Getreide abzugeben. In diesem Jahr waren es nur 120, im vorigen Jahr nur 100. Von den Hühnern, Schweinen und Eiern ganz abgesehen. Was hast du dazu zu sagen?«
Lisette tat zwei Schritte vor und wollte den Mund öffnen, doch Jean hielt seine Frau zurück. »Es ist gut, Lisette.« Er wandte sich wieder dem Prior zu. »Die letzten Ernten waren verheerend, ehrwürdiger Vater. Früher Frost verdarb einen Großteil der Ernte, und der Getreiderost tat ein Übriges. Die Erträge reichten gerade aus, um nicht zu verhungern.«
Henri kniff die Augen zusammen. »Dann frage ich mich, wie du und dein Weib so fett geworden seid, Mann.«
Ohne eine Erwiderung senkte Jean den Kopf.
»Stell den gesamten Hof für die nächste Ernte um! Alle Felder!«, befahl Henri.
»Wie Ihr wünscht, ehrwürdiger Vater«, gab Jean kleinlaut zurück.
»Die fehlenden Abgaben reichst du im nächsten Jahr nach«, ergänzte Henri.
Jean sah verstört auf, unfähig, ein Wort zu sagen.
Raphael wollte seine Stimme für die Familie erheben, aber Henri bedeutete ihm, aufzusitzen. Mit einem letzten Blick wollte er den Brillons aufmunternd zulächeln – es misslang, und er verzog nur bekümmert das Gesicht.
Schnell entfernten sie sich von dem Hof. Mit sich selbst hadernd, überlegte Raphael, wie er Henri die Augen für die Probleme der Bevölkerung öffnen könnte. Durch das Versprechen der Oboedientia war er seinem Prior zum bedingungslosen Gehorsam verpflichtet. Aber bedeutete das, dass er seine Meinungen und Ansichten unterdrücken musste? Erneut suchte er Antwort in
Weitere Kostenlose Bücher