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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Fandrey
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mehr in Henri gesehen, als jeder Spiegel zeigen könnte? Fragen über Fragen, deren Antworten der Allmächtige Raphael schuldig blieb. Oft übermannte dieses Karussell von Fragen und Vermutungen Raphael, wenn er sich zur Nachtruhe begab. Und er vermochte sich aus diesem Strudel der Gedanken nur zu befreien, indem er sich vorstellte, wie ein Burgtor nach unten gelassen wurde und den Weg zu den Fragen versperrte. Dann fiel er in einen unruhigen Schlaf. Doch häufig schafften es einige Fragen, über die Burgmauern zu springen und ihn im Schlaf zu überraschen. Dann wachte er schweißgebadet und mit heftigem Herzklopfen auf.
    An diesem Morgen stand Raphael gemeinsam mit drei Mitbrüdern im Scriptorium an einem Pult und übersetzte hebräische Schriften ins Lateinische. Es war kalt, doch Raphael war dermaßen in seine Arbeit vertieft, dass er die Welt um sich herum vergaß. Plötzlich stand Henri, scheinbar aus dem Nichts kommend, vor seinem Pult.
    »Mein Sohn«, dröhnte Henris Stimme.
    Raphael zuckte zusammen und sah auf. »Ehrwürdiger Vater?«
    »Begleitet mich nach Rouen.«
    Insgeheim wünschte sich Raphael, bei seiner Arbeit zu bleiben, sagte aber stattdessen: »Sofort, ehrwürdiger Vater.« Er legte den Federkiel beiseite, verschloss das Tintenfässchen und folgte seinem Prior in den Stall. Schnell waren zwei Pferde gesattelt, und die beiden Mönche machten sich auf den Weg in die Stadt.
    Raphael fröstelte. Seine Zähne schlugen aufeinander, und der eisige Wind schnitt ihm ins Gesicht. Die wollene Kukulle hielt die Kälte kaum ab. Er zog die Kapuze hoch und schob seine Arme in die weiten Ärmel des Ausgehmantels. Er warf einen verstohlenen Blick auf Henri. Der schien die erbärmliche Kälte gar nicht wahrzunehmen. Das Gesicht des Priors war zu einer Maske erstarrt. Steif, die Augen in die Ferne gerichtet, saß er auf seinem Pferd.
    Einem inneren Impuls folgend, fragte Raphael: »Was begehrt Ihr in Rouen zu tun, ehrwürdiger Vater?«
    »Wir suchen eine Gefangene im Kerker auf«, antwortete Henri, ohne den Kopf zu wenden.
    Überrascht zog Raphael die Brauen hoch. »Um wen handelt es sich?«
    »Die Hexe Anne Langlois.«
    Raphael erschrak. Anne Langlois? Hatte Henri wirklich Hexe gesagt? Die gute, stets hilfsbereite Frau? Das konnte nicht sein! Nein, es musste sich um einen Irrtum handeln. Er überlegte, ob er widersprechen sollte, entschied sich dann aber dafür, abzuwarten. Jetzt konnte er ohnehin noch nichts für sie tun.
    Den Rest der Reise rutschte Raphael unruhig auf seinem Sattel hin und her. Endlich kamen die Mauern der Stadt Rouen in Sicht. Die Torwachen ließen die Mönche ungehindert passieren. Mit traumwandlerischer Sicherheit lenkte Henri sein Pferd durch die engen Straßen und Gassen. Hin und wieder begegneten ihnen Menschen, die Raphael seit Jahren vertraut waren, und sie nickten dem jungen Mönch freundlich zu. Henri jedoch bedachten sie mit angsterfüllten, misstrauischen Blicken. Der Prior beachtete sie nicht.
    Die Burg Rouen, die auf einer Anhöhe mitten in der Stadt lag, rückte ins Sichtfeld der Dominikaner. Raphael vermutete, dass dort ihr Ziel war. Doch Henri lenkte sein Pferd gen Westen und ritt um die Burg herum. Noch grübelte Raphael über diesen ungewöhnlichen Weg nach, da sah er hinter der Burg einen etwa fünfzig Fuß hohen steinernen Turm. Seltsam! Das Bauwerk hatte doch bei seinem letzten Besuch in Rouen noch nicht dort gestanden. Soweit Raphael sehen konnte, hatte der Turm eine massive Tür und daneben ein kleines vergittertes Fenster. Er schätzte, dass der Umfang des Turms etwa hundert Schritt betrug. Ein imposantes Monument. Trotz düsterer Vorahnungen siegte seine Neugier. »Ehrwürdiger Vater«, flüsterte er, »was ist das?«
    »Der Hexenturm von Rouen«, erklärte Henri.
    Behände stieg der Prior vor dem Hexenturm vom Pferd und ließ es dort stehen. Raphael folgte ihm in einigen Schritten Abstand zum Eingang des Turms. Dort erwartete sie ein grobschlächtiger Klotz mit schlechten Zähnen. Das linke Auge war trübe wie Eidotter, das rechte klein und gierig wie das eines Habichts.
    »Ehrwürdiger Vater«, sagte der Klotz und verneigte sich tief. Er stank wie die Latrinengrube in St. Albert.
    »Führe uns zu der Gefangenen!«, befahl Henri le Brasse.
    Der Henker grinste breit und stieß ein devotes »Sehr wohl, ehrwürdiger Vater«, hervor. Er ging hinein, nahm eine Fackel von der Wand und humpelte die breiten Stufen hinab. Es stank entsetzlich nach Exkrementen, und Raphael hätte

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