Hexentochter
Eins
Weinmond
Trotzig schreien wir in den Himmel
Zur Sonne, die in die Augen uns scheint
Mächtig ist das Haus Deveraux
Und wächst von Stund zu Stund mehr
Eilt herbei, Cahors, meine Schwestern
Durch Worte allein werden wir reich
Die Alte befiehlt uns stets zu lauschen
Denn Worte sind Wissen und Wissen ist Macht
Holly und Amanda: Seattle, nach Lammas
Im Jahr der Coventry, der Welt der Hexenzirkel ist der Herbst die Zeit, zu der man erntet, was man gesät hat, und zwar siebenfach. Das gilt für die Seelen der Toten genauso wie für Getreidegarben und Weintrauben.
Ein volles Jahr war vergangen, seit Holly Cathers Eltern und ihre beste Freundin Tina Davis-Chin bei einer Rafting-Tour auf dem Colorado-River ertrunken waren. Der Tod war auch ins Haus der Andersons in Seattle eingefallen und hatte sich Marie-Claire geholt, die Schwester von Hollys Vater. Marie-Claire Cathers-Anderson ruhte nun in einem der beiden Gräber, die sie und ihr Mann Richard einmal gemeinsam gekauft hatten - ein romantischer Traum von der Ewigkeit. Die Wirklichkeit, in der sie ihn betrogen hatte, machte es Onkel Richard schwer, auf eine andere, bessere Welt im Jenseits zu hoffen, wo sie auf ihn wartete. Davon erzählte er Holly oft, seit er sich angewöhnt hatte, spät abends zu trinken.
Tinas Mutter Barbara Davis-Chin lag noch immer im Marin County General Hospital in San Francisco. Früher hatten sie und Hollys Mom dort als Ärztinnen in der Notaufnahme gearbeitet. Jetzt, da Holly von der Welt der Hexerei erfahren und ihren Platz als Oberhaupt ihres eigenen Covens eingenommen hatte, wusste sie, dass Barbaras rätselhafte Krankheit kein Zufall war.
Barbaras Erkrankung war Michaels erster Angriff auf uns. Er wollte mich hier in Seattle haben. Ich hätte bei Barbara in San Francisco wohnen sollen, aber er brauchte mich hier - weil er mich umbringen wollte.
Blitze zuckten im strömenden, eiskalten Regen. Die starken elektrischen Ladungen fächerten sich auf wie Suchtrupps und rammten ihre vielen Arme mit ohrenbetäubendem Krachen in die Erde. Holly fühlte sich schutzlos in der Familien-Kutsche, einem Kombi, der wie ein lahmer Lockvogel durch die Pfützen watschelte. Drei Querstraßen von Kari Hardwickes Wohnung entfernt stieg sie aus und rannte den Rest des Weges dorthin.
Holly selbst war mit starken Schutzzaubern versehen und trug obendrein einen Umhang, der unsichtbar machte. Tante Cecile, eine Voodoo-Pries- terin, und Dan Carter, ein indianischer Schamane, hatten ihn gemeinsam geschaffen. Holly trug ihn jetzt immer, wenn sie das Haus verlassen musste. Er war alles andere als perfekt und verlor des Öfteren die Macht, sie zu verbergen, doch Holly hatte ihn brav getragen, seit die beiden ihr den Umhang geschenkt hatten - das war keine Woche nach dem Kampf um das Schwarze Feuer zu Beltane gewesen.
Der Coven erwartete sie in Karis Studentenwohnung in einer coolen, umgebauten Queen-Anne-Villa in der Nähe der University of Washington. Kari hatte diese Zusammenkunft des Zirkels gefordert. Gestern Nacht um drei Uhr - zur Dunklen Stunde der Seele - war sie aus einem schrecklichen Albtraum erwacht, an den sie sich nicht genau erinnern konnte. Etwas hatte sie zum Fenster hingezogen, und sie hatte voller Entsetzen zugesehen, wie Ungeheuer um ihr Turmzimmer herumflogen - riesige, pechschwarze Geschöpfe, bei denen es sich ziemlich sicher um übergroße Raubvögel handelte.
Bussarde waren das Totemtier der Familie Deveraux.
Falls Michael Deveraux nach Seattle zurückgekehrt war und obendrein eine Möglichkeit gefunden hatte, seinen verderbten Sohn Eli zu retten, dann steckte der Cathers-Anderson-Coven in gewaltigen und womöglich tödlichen Schwierigkeiten. Michael Deveraux gierte danach, die Fehde zu vollenden, die vor so vielen Jahrhunderten zwischen den Ahnen der Cathers und der Deveraux entbrannt war. Diese Blutrache forderte nicht weniger als den Tod jeder lebenden Cathers-Hexe - und das waren Holly und ihre Cousinen Amanda und Nicole.
Als Oberhaupt des Cathers-Anderson-Zirkels war es Hollys Aufgabe, sie alle und sich selbst zu beschützen.
Dabei standen ihr nur wenige Waffen zur Verfügung. Sie wusste noch nicht einmal seit einem Jahr, dass sie eine Hexe war, wohingegen die Deveraux nie vergessen hatten, dass sie wie ihre Ahnen zu den meistgehassten und -gefürchteten Hexern aller Zeiten gehörten. Hollys Nachname lautete zwar Cathers, aber ihre Vorfahren hatten im mittelalterlichen Frankreich dem adligen Haus Cahors angehört. Im
Weitere Kostenlose Bücher