Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb (German Edition)
1
Nachdem sie weg waren, schob Eva den Riegel vor die Tür und stöpselte das Telefon aus. Sie liebte es, das Haus für sich allein zu haben. Sie ging von Zimmer zu Zimmer, räumte und wischte und stellte Tassen und Teller weg, die ihr Mann und die Kinder überall stehen gelassen hatten. Jemand hatte einen Esslöffel auf die Lehne ihres Lieblingssessels gelegt – den sie bei einem Volkshochschulkurs selbst bezogen hatte. Sofort ging sie in die Küche und studierte den Inhalt der Kiste mit den Putzmitteln.
»Womit könnte ein Heinz-Tomatensuppenfleck aus besticktem Seidendamast rausgehen?«
Während sie suchte, machte sie sich selbst Vorhaltungen. »Du bist selbst schuld. Du hättest den Sessel im Schlafzimmer lassen sollen. Es war pure Eitelkeit, ihn ins Wohnzimmer zu stellen. Du wolltest, dass er Gästen auffällt, damit du erzählen kannst, dass du zwei Jahre daran gestickt hast und dass dich Claude Monets ›Wasserlilienteich‹ dazu inspiriert hat.«
Allein für die Bäume hatte sie ein Jahr gebraucht.
Auf dem Küchenfußboden befand sich eine kleine Tomatensuppenpfütze, die sie erst bemerkte, nachdem sie reingetreten war und orangefarbene Fußspuren hinterließ. In dem kleinen beschichteten Kochtopf auf der Herdplatte köchelte immer noch die Hälfte der Tomatensuppendose vor sich hin. »Zu faul, einen Topf vom Herd zu nehmen«, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass die Zwillinge von nun an das Problem der Universität Leeds waren.
Sie erhaschte ihr Spiegelbild im rußigen Glas des Wandbackofens. Eilig wandte sie den Blick ab. Hätte sie länger hingeschaut, hätte sie eine fünfzigjährige Frau gesehen mit hübschen, zarten Gesichtszügen, hellen, neugierigen Augen und einem Clara-Bow-Mund, der immer so aussah, als wollte er gerade etwas sagen. Niemand – nicht einmal Brian, ihr Mann – hatte sie je ohne Lippenstift gesehen. Eva fand die roten Lippen einen schönen Kontrast zu den schwarzen Sachen, die sie gewöhnlich trug. Manchmal gestattete sie sich auch ein wenig Grau.
Einmal war Brian nach Hause gekommen, als Eva in ihren schwarzen Gummistiefeln im Garten stand, in der Hand ein Bündel Steckrüben, das sie gerade gezogen hatte. »Mein Gott, Eva!«, hatte er gesagt. »Du siehst aus wie Polen nach dem Krieg.«
Ihr Gesicht war gerade in Mode. »Vintage«, so das Mädchen am Chanel-Stand, wo sie ihren Lippenstift kaufte (wobei sie nie vergaß, den Kassenzettel wegzuwerfen – ihr Mann hätte den unverschämten Preis nicht verstanden).
Sie nahm den Topf, ging von der Küche ins Wohnzimmer und kippte die Suppe über ihren geliebten Sessel. Dann ging sie nach oben ins Schlafzimmer, legte sich, ohne sich ihrer Kleider oder Schuhe zu entledigen, ins Bett und blieb ein Jahr darin.
Sie wusste nicht, dass es ein Jahr sein würde. Sie hatte nach einer halben Stunde wieder aufstehen wollen, aber das Bett war so gemütlich, die weißen Laken waren so frisch und dufteten nach Neuschnee. Sie drehte sich zum offenen Fenster und sah zu, wie der Ahorn im Garten seine flammend roten Blätter verlor.
Sie hatte den September immer geliebt.
Sie wachte auf, als es dunkel wurde, und hörte ihren Mann draußen schreien. Ihr Handy klingelte. Auf dem Display sah sie, dass es ihre Tochter Brianne war. Sie ignorierte den Anruf. Sie zog die Decke über den Kopf und sang den Text von Johnny Cashs »I Walk The Line«.
Als sie das nächste Mal den Kopf unter der Decke hervorstreckte, hörte sie die aufgeregte Stimme von Julie, der Nachbarin von nebenan: »Das gehört sich nicht, Brian.«
Sie standen im Vorgarten.
Ihr Mann sagte: »Ich meine, ich bin ganz bis nach Leeds gefahren, und zurück, ich brauche eine Dusche.«
»Natürlich.«
Eva dachte über diesen Wortwechsel nach. Warum benötigte man nach einer Fahrt nach Leeds (und zurück) eine Dusche? War die Luft im Norden schmutziger? Oder hatte er auf der M1 geschwitzt? Die Lastwagenfahrer verflucht? Drängler beschimpft? Wütend die Wetterlage angeprangert?
Sie schaltete die Nachttischlampe an.
Darauf ging das Geschrei draußen weiter. »Lass den Scheiß und mach die Tür auf.«
Ihr wurde klar, dass sie, obwohl sie nach unten gehen und ihn reinlassen wollte, das Bett nicht verlassen konnte. Es kam ihr vor, als wäre sie in einen Bottich warmen, schnellhärtenden Beton gefallen und als könnte sie
sich nicht bewegen. Sie fühlte, wie sich eine köstliche Trägheit in ihrem Körper ausbreitete, und dachte: »Ich wäre verrückt, wenn ich dieses Bett verlassen
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