Hexer-Edition 01: Die Spur des Hexers
so etwas wie Leben besessen hatte. Zurückbleiben würde ein fünfzehn Yards durchmessender Kreis toter Erde, der niemand mehr ansah, dass sie zum Grab eines Menschen und von vier Pferden geworden war, auf der sich nie wieder Leben rühren würde. Und dass sie um ein Haar sein Grab geworden wäre.
Der Gedanke wirkte sonderbar ernüchternd auf Andara.
Jetzt, als die unmittelbare Gefahr vorüber war, setzte die Wirkung des Schocks ein, gegen den auch er nicht gefeit war. Es gab Schrecken, an die man sich gewöhnen konnte, und solche, die jedesmal gleich entsetzlich waren, ganz egal, wie oft man ihnen begegnete. Was hier geschehen war, gehörte zur zweiten Kategorie.
Seine Hände begannen zu zittern. Ihm war gleichzeitig heiß und kalt, und in seinem Magen breitete sich dumpfe Übelkeit aus. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Für einen Moment überkam ihn Schwäche; so heftig, dass er zurücktaumelte und sich gegen einen Baum lehnte, bis sich sein rasender Herzschlag wenigstens halbwegs beruhigt hatte. Das Gesicht des Kutschers tauchte vor ihm auf, der Ausdruck ungläubigen Entsetzens in seinen Augen, als er den schwarzen Tentakel auf sich zurasen sah und begriffen haben mochte, dass er sterben würde, nicht irgendwann und irgendwo, sondern jetzt und hier, als er jenen entsetzlichen Moment durchlebte, der im Leben eines jeden Menschen einmal kommt, und in dem man begreift, dass die Vorstellung, unsterblich zu sein, falsch war.
Der wievielte? dachte Andara matt. Er spürte keinen Schmerz, kein Entsetzen, kein … nein, nicht das, was man gemeinhin so falsch als schlechtes Gewissen bezeichnete. Nicht einmal das. Nur Zorn. Einen hilflosen, entsetzlichen Zorn. Wie viele unschuldige Menschen mussten noch sterben, bevor er diesen Teufeln das Handwerk legen konnte?
Lange, sehr sehr lange stand Roderick Andara einfach so da, lauschte auf das leise Zischen und Schmatzen des Sumpfes, der kein Sumpf war, wartete, dass das rasende Hämmern seines Herzens aufhörte und sich sein Atem beruhigte, und versuchte, mit dem Sturm von Gefühlen fertig zu werden, der in ihm tobte. Dann stieß er sich von dem Baum ab, an den er sich gelehnt hatte, schob den Spazierstock unter seinen Gürtel und wandte sich in die Richtung, in die der Weg führte und aus der sie gekommen waren.
»Bob«, flüsterte er. »Halte durch, mein Junge. Ich komme!« Und damit begann er zu laufen.
Mitternacht war vorbei, als er Walnut Falls wieder erreichte. Die Strecke, die die Kutsche in kaum anderthalb Stunden zurückgelegt hatte, hatte sich in Sonnenglut und mühsamem Vorwärtsstolpern zu zehn Ewigkeiten gedehnt. Anfangs war er gelaufen, aber seine Kräfte hatten ihn schon nach wenig mehr als einer Meile verlassen, und die staubtrockene Luft und die Hitze, die die Grenzen des Vorstellbaren längst überschritten hatte, hatten ein Übriges getan, ihn schon nach einer halben Stunde mehr taumeln als gehen zu lassen. Selbst nach Sonnenuntergang war es kaum besser geworden. Die Temperaturen waren auf ein erträgliches Maß gesunken, aber er hatte bereits einen Grad der Erschöpfung erreicht, bei dem dieser Unterschied kaum mehr zählte.
Dann hatte er die Wölfe gehört: ein schrilles, unangenehmes Wehklagen und Jammern, das irgendwo jenseits des Horizontes erscholl und die Nacht mit einer schauerlichen Melodie durchwob, und er hatte mit jähem Schrecken begriffen, dass er hier nicht in New York oder Denver war, sondern inmitten der Einsamkeit und Öde Colorados, wo die Zeit hundert Jahre hinter dem Kalender herhinkte, und dass er praktisch waffen- und schutzlos war, wenn sie ihn angreifen würden. Er wäre mit Sicherheit nicht der erste, der in diesem Land verschwand und nie wieder gesehen wurde.
Aber wenigstens in diesem Punkt hatte er Glück. Das Heulen und Wehklagen hielt an, und ein paarmal glaubte er Schatten zu sehen, die auf weichen Pfoten vor ihm flohen, einmal sogar ein Paar düster-glühender Augen, die ihn allerdings mit weit mehr Interesse als Gier aus der Dunkelheit heraus anstarrten, aber nichts kam ihm nahe, kein lebendes Wesen zeigte sich auch nur, und er erreichte den winzigen Ort unbehelligt.
Walnut Falls war so still, wie es eine schlafende Kleinstadt nur sein konnte. Hinter den vergitterten Fenstern des Jail glühte trübgelbes Petroleumlicht, ein struppiger Schäferhund, der mitten auf der Straße schlief, hob träge den Kopf von den Pfoten und blinzelte ihn an, und aus dem Mietstall drang das verschlafene Wiehern eines Pferdes, das
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