Hexer-Edition 10: Wer den Tod ruft
meine Seele gepflanzt hatte. Ich hatte während der letzten fünf Tage so viel Schlaf bekommen wie ein ehrlicher Christenmensch normalerweise in einer Nacht und obwohl ich eine alles andere als schwächliche Konstitution habe, begann mein Körper nun nachhaltig die Ruhe zu monieren, die ich ihm vorenthalten hatte. Ich hätte meinen rechten Arm für eine Stunde Schlaf gegeben. Aber gleichzeitig wusste ich auch, dass ich keine Ruhe finden würde – wie konnte ich auch!
Müde machte ich ein paar Schritte, blieb stehen und blinzelte aus entzündeten Augen über das Deck. Die DAGON war groß, das mit Abstand größte Schiff, das ich jemals gesehen hatte, wahrscheinlich das größte Schiff, das jemals auf den Weltmeeren gefahren war, und ihr Hauptdeck erstreckte sich wie drei aneinander gelegte Fußballplätze vor und unter mir, unterbrochen von zahllosen Aufbauten, deren Bedeutung ich nur zum allergeringsten Teil kannte, und auf mehreren neben- und übereinander liegenden Ebenen angeordnet. Die gigantischen, erdfarbenen Segel blähten sich über mir, obgleich die See noch immer fast windstill war, und das Gewirr aus Kabeln und Drahtseilen, das sie hielt, war so straff gespannt, dass ich das Summen des belasteten Materials hören konnte.
Trotzdem war ich allein auf Deck.
Die knapp zweihundert Männer und Frauen, die zusammen mit Dagon an Bord des gleichnamigen Schiffes gekommen waren, waren irgendwo in seinen unergründlichen Tiefen verschwunden und ich hatte wenig Lust, mit einem von ihnen zusammenzutreffen. Mit Ausnahme Jennifers hatte ich mit niemandem mehr geredet, und mir stand auch nicht der Sinn danach, denn es wäre ein Gespräch gewesen, das ohnehin keinen Sinn hatte. Die Menschen, die Dagon folgten, waren Fanatiker und es hat noch niemals zu irgendetwas anderem als Zorn und Kopfschmerzen geführt, mit einem Fanatiker diskutieren zu wollen. Außerdem hatte ich keine sonderliche Lust, mit McGillycaddy zusammenzutreffen – wer unterhält sich schon gerne mit einem Mörder?
Trotzdem bereute ich meinen Entschluss, an Deck zu kommen, in diesem Moment schon fast wieder. Die unnatürliche Kälte war unter Deck zwar genauso unangenehm zu spüren wie hier und die DAGON war groß genug, trotz der sicherlich zwanzig Knoten, mit der sie die Wellen pflügte, ruhig wie ein Stein im Wasser zu liegen, sodass mich sogar die Seekrankheit verschonte, unter der ich normalerweise schon litt, wenn ich nur Wasser rauschen hörte. Aber es war etwas anderes, das mich erschreckte.
Es war die Einsamkeit.
Ich habe sie normalerweise nie gefürchtet; im Gegenteil. Ich schätze das Alleinsein sehr, aber die Stille an Deck der DAGON hatte etwas Unheimliches. Es war keine wirkliche Stille; keine Stille der Geräusche. Das Schiff war voll von Lauten – dem Knarren der Maste und Spieren, dem gelegentlichen Flappen der Segel, das sich anhörte wie das langsame Schlagen gigantischer lederner Flügel, dem Sirren und Singen der straff gespannten Kabel und Taue, dem Klatschen der Wellen, die an den haushohen Flanken des Schiffes zu weißem Schaum zerbarsten – und trotzdem, so absurd es mir selbst in diesem Moment vorkam, war das Schiff still. Es war eine Stille jenseits des Hörbaren, ein Schweigen, als wäre ein Stück der Wirklichkeit um mich herum erloschen. Dafür war etwas anderes da. Etwas, das weder mit Worten noch mit Gedanken zu beschreiben war und das mich tief erschreckte. Es war, als wisperten die Schatten, als erzählten die Dunkelheit und das Schweigen düstere Geschichten; Geschichten von verbotenen Dingen und verfluchten Orten, an denen dieses Schiff gewesen war und zu denen es wieder fuhr …
Mühsam schüttelte ich den Gedanken ab, drehte mich auf dem Absatz herum, um nun doch wieder nach unten zu gehen – und erstarrte.
Am Fuße der Treppe lag ein Mann.
Ich war absolut sicher, dass er vor wenigen Augenblicken noch nicht dort gelegen hatte – schließlich war ich vor weniger als einer Minute selbst die steile Holztreppe hinuntergestiegen –, ebenso wie ich vollkommen sicher war, keine Schritte gehört zu haben.
Aber jetzt war er da.
Und er war tot.
Ich hätte die dunkle Blutlache, die sich langsam unter seinem Körper ausbreitete, nicht einmal zu sehen brauchen, um das zu wissen. Man erkennt einen Toten, wenn man ihn sieht.
Der Mann lag verkrümmt da, mit dem Gesicht in der größer werdenden Pfütze seines eigenen Blutes, die rechte Hand um den Griff eines armlangen Säbels geschlossen und die andere zu einer
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