Die Gerechten
1
FREITAG, 21.10 UHR, NEW YORK
Die Nacht jenes ersten Mordes war erfüllt von Gesang. Die St. Patrick’s Kathedrale in Manhattan erbebte unter den Klängen des Händel’schen »Messias«, dieser großartigen Chormusik, die unfehlbar jedes noch so müde Publikum aus dem Tiefschlaf reißt. Die Stimmen brandeten wie eine Woge unter das Dach der Kathedrale. Es war, als wollten sie es durchbrechen und hinaufsteigen, hinauf bis in den Himmel.
Auf zwei der besten Plätze saßen ein Vater und sein Sohn. Der ältere Mann hatte die Augen geschlossen, wie immer bewegt von seiner Lieblingsmusik. Der Blick des Sohnes ging hin und her, zwischen den Musikern – die schwarzgekleideten Sänger, der Dirigent, der sein ergrauendes Haar wild nach hinten schüttelte – und dem Mann an seiner Seite. Es gefiel ihm, dass er ihn ansehen, seine Reaktionen erahnen konnte; es gefiel ihm, dass er ihm nah war.
Heute Abend gab es Grund zum Feiern. Einen Monat zuvor hatte Will Monroe Jr. den Job bekommen, von dem er träumte, seit er nach Amerika gekommen war. Erst Ende zwanzig, war er jetzt Reporter auf der Überholspur – bei der New York Times. Monroe Sr. lebte in einer anderen Welt; er war Jurist, einer der fähigsten seiner Generation, und diente heute als Bundesrichter im Zweiten Gerichtshof des Appellationsgerichts. Aber Leistung und Erfolg erkannte er auch anderswo, und ihm war klar, dass der junge Mann an seiner Seite, dessen Kindheit er fast vollständig versäumt hatte, einen Meilenstein erreicht hatte. Heute Abend bekam er seinen Lohn. Er griff nach der Hand seines Sohnes und drückte sie.
In diesem Augenblick, keine vierzig U-Bahn-Minuten entfernt und doch in einem anderen Universum, hörte Howard Macrae die Schritte hinter sich. Er hatte keine Angst. Fremde mochten diese Gegend von Brooklyn meiden; sie hieß Brownsville und war berüchtigt für ihre verkommene Drogenszene. Aber Macrae kannte jede Straße, jede Toreinfahrt.
Er war ein Teil der Landschaft. Als Zuhälter mit rund zwanzig Jahren Erfahrung war er mit Brownsville verdrahtet. Und er war gerissen genug, um dafür zu sorgen, dass er in dem Bandenkrieg, der die Gegend zerriss, jederzeit neutral blieb. Ständig wechselnde Parteien prallten aufeinander, aber Howard blieb konstant auf seinem Platz. Niemand hatte je versucht, das Revier in Frage zu stellen, in dem seine Huren seit Jahren ihrem Gewerbe nachgingen.
Deshalb beunruhigten ihn die Geräusche, die er hinter sich hörte, nicht weiter. Aber er fand es merkwürdig, dass die Schritte nicht aufhörten. Sie waren dicht hinter ihm, das war klar. Warum sollte ihn jemand verfolgen? Er drehte den Kopf und warf einen Blick über die linke Schulter. Dann schnappte er nach Luft und wäre beinahe über seine eigenen Füße gestolpert. Da war eine Pistole, wie er sie noch nie gesehen hatte – und sie zielte auf ihn.
In der Kathedrale sang der Chor, als sei er ein einziges Wesen. Die Lungen der Sänger arbeiteten wie die Blasebälge einer mächtigen Orgel. Eindringlich erklang die machtvolle Botschaft:
Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbart, und alles Fleisch miteinander soll es sehen: denn des Herrn Mund hat es verheißen.
Howard Macrae schaute wieder nach vorn, und instinktiv wollte er losrennen. Aber er fühlte ein seltsames Stechen in seinem rechten Oberschenkel. Das Bein wollte nachgeben, unter seinem Gewicht einknicken, und es gehorchte ihm nicht. Ich muss rennen! Aber sein Körper reagierte nicht. Er bewegte sich wie in Zeitlupe, als wate er durch tiefes Wasser.
Jetzt verweigerten auch die Arme ihren Dienst, sie wurden träge, dann schlaff. Sein Hirn, eben noch auf Hochtouren, wurde von Schwere überwältigt; ihm war, als sei es von einer Hochwasserwoge überflutet. Er war so müde.
Er rannte nicht mehr, er lag am Boden und umklammerte den rechten Oberschenkel. Das Bein und alle anderen Gliedmaßen wurden taub. Er blickte hoch, aber er sah nichts als blinkenden Stahl.
In der Kathedrale schlug Wills Puls immer schneller. Der Spannungsbogen des »Messias« erreichte seinen Höhepunkt, das spürte das Publikum. Eine Sopranstimme schwebte über den Zuhörern:
Wenn Gott für uns ist, wer kann wider uns sein?
Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?
Es ist Gott, der gerecht macht, wer ist der, welcher verdammt?
Macrae sah hilflos zu, wie das Messer über seiner Brust schwebte. Er versuchte zu erkennen, wer dahinter war, aber er sah kein Gesicht. Das blinkende Metall blendete ihn; die harte, blanke
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