Hexer-Edition 10: Wer den Tod ruft
anderen warnen, Craven. Aber was glauben Sie, was hier los ist, wenn jemand zufällig hier heraufkommt und diesen Mann findet, so, wie er aussieht? Helfen Sie mir, ihn über Bord zu werfen.«
Zwei, drei Sekunden lang blickte er mich auffordernd an, dann stieß er ein zorniges Schnauben aus, lud sich den leblosen Körper des Drachenkriegers allein auf die Arme und trug ihn, schwankend, aber sehr schnell, zur Reling.
»Zum Teufel, Bannermann, warten Sie!«, rief ich. »Ich –«
Es war zu spät. Bannermann hob den schwarz verhüllten Leichnam ächzend über die Reling und ließ ihn los. Wie ein Stein stürzte er in die Tiefe. Bannermann grunzte zufrieden, kam zurück und bückte sich nach den Waffen, die er aus der Kleidung des Toten gezogen hatte. Nacheinander schleuderte er alles über Bord und behielt nur einen zweischneidigen Dolch und eine Anzahl kleiner, fünfzackiger Wurfsterne zurück, die er mir reichte.
»Was soll ich damit?«, fragte ich verwirrt.
Bannermann winkte ungeduldig mit der Hand. »Stecken Sie sie ein, Craven. Vielleicht sind Sie bald froh, überhaupt eine Waffe zu haben. Was immer diesen Mann getötet hat, ist noch an Bord, vergessen Sie das nicht. Und jetzt kommen Sie. Ich denke, wir sollten Dagon berichten, was hier geschehen ist.«
Der Raum um Necron war still wie immer. Die Geräusche der Außenwelt hatten hier keine Bedeutung und die gleiche Macht die ihn vor dem Griff der Zeit schützte, bewahrte ihn auch vor den Geräuschen des Draußen, vor seinen Lauten und Störungen, vor jedem Einfluss, der das Unwandelbare hätte wandeln können.
Und doch hatte sich etwas geändert, hier, wo nichts verändert werden durfte, dachte Necron schaudernd. Wie alle wirklich großen Veränderungen war sie noch nicht sichtbar, begann sie lautlos und unsichtbar, beinahe unbemerkt. Niemand würde sie spüren, bis es zu spät war, niemand mit Ausnahme einiger weniger Berufener. Oder Verfluchter.
Necron wusste selbst nicht zu sagen, zu welcher Gruppe er gehörte. Manchmal, in all den ungezählten Jahren, die er gelebt hatte, hatte er begonnen zu zweifeln, hatte mit dem Schicksal gehadert und sich gewünscht, der Verlockung der Macht nicht nachgegeben zu haben, in diesem einen, einzigen Moment vor so langer Zeit, der sein Leben so vollkommen geändert hatte. Seines und das zahlloser anderer Männer und Frauen …
Ein Schatten bewegte sich vor ihm; nicht wirklich, nicht so, als bewege sich wirklich etwas in der großen, stillen Kammer. Es war nur ein Huschen von Dunkelheit, ein flüchtiger, zeitloser Augenblick, als griffe ein Finger aus Finsternis aus den Dimensionen jenseits der Nacht hervor und richte sich drohend auf ihn, aber Necron verstand die Warnung. Er hatte den GROSSEN ALTEN einmal zu hintergehen versucht und Cthulhu würde keinen zweiten Verrat dulden. Nicht einmal einen Moment des Zweifels.
Gehorsam wandte er seine Gedanken von solcherlei verbotenen Dingen ab und ging mit gemessenen Schritten zur anderen Seite der Kammer, wo zwei übermannslange, rechteckige Behältnisse aus Glas auf schwarzen Marmorsockeln aufgestellt waren.
Seine harten, grausamen Gesichtszüge spiegelten sich verzerrt in dem glasklaren Kristall, als er sich über den ersten beugte und das Gesicht des schlafenden Mädchens darin musterte. Er hatte es oft getan in den letzten Monaten, zahllose Male, und doch hatten die schmalen, beinahe eingefallen wirkenden Züge dieses kindlichen Wesens nichts von ihrem Geheimnis verloren. Necron konnte es sich nicht erklären, aber das Antlitz der schlafenden Frau faszinierte ihn; weit mehr, als es beim Anblick einer schönen Frau normal gewesen wäre.
Was ihn so in seinen Bann schlug, war das … Geheimnis, das ihre Züge zu verbergen schienen.
Necron richtete sich auf und wandte sich dem zweiten Kristallsarg zu. Unter dem spiegelnden Deckel lag die entkleidete Gestalt eines jungen Mannes, schlank, aber so wohlproportioniert, wie sie nur sein konnte, das Gesicht kantig und hart, dabei aber von einer offenen, freundlichen Art; ein Gesicht, zu dem man sofort Zutrauen fassen musste. Ein Jungengesicht, trotz der harten Züge die um Kinn und Mund lagen. In Necron löste es nichts anderes als eine Woge brodelnden Zornes aus. Shannon!, dachte er hasserfüllt.
Sein bester Schüler. Seine größte Hoffnung seit so vielen Jahrhunderten.
Und seine größte Enttäuschung.
Was hätte er darum gegeben, ihn vernichten zu können, ihn bezahlen zu lassen für den zweifachen Verrat, den er
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