Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)
die Leute früher, als es noch kein Fernsehen gab, einen viel höheren IQ hatten?«
»Aber wenn …«
»Das stimmt! Manche Hunde haben den IQ eines vierjährigen Kindes. Je nach Rasse. Und es gibt Wissenschaftler, die glauben, dass manche Gehirnerkrankungen von zu viel …«
Ich bin so entsetzt, dass ich Andrew ausblende. Wenn es meinem Großvater passiert ist, passiert es mir vielleicht auch. Meine schlimmsten Ängste könnten wahr werden, und am Ende bin ich vielleicht nicht mehr ich selbst. Ich könnte mich in eine andere, wirklich unangenehme Person verwandeln, die nur darauf wartet, wie eine Dose vergorene Limo aufzuplatzen und alles vollzuspritzen. Ich werde alt sein, nicht mehr alle beisammenhaben und nie mehr einen Typen an Land ziehen. Ich werde unter Verfolgungswahn leiden. Pleite sein. Schmähbriefe an die Queen schreiben. Ich werde das Haus nicht mehr verlassen und durch den Vorhangspalt schielen, wenn der Postbote meine Veranda betritt. Ich werde mich über einen Topf kochendes Wasser beugen, aus dem Botschaften aus dem Jenseits rüberdampfen, und Danny Kaye über mich lästern hören. Einfach grauenhaft. Hilfesuchend sehe ich Andrew an und bemerke erst jetzt, dass er schon eine ganze Weile versucht, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Schau doch« , sagt er, nimmt mit beiden Händen meinen Kopf und dreht ihn, dass ich den weißen Spiegel eines Rehs sehe, das langsam in den dunklen Wald stakst. Sein weißer Schwanz zuckt, verschmilzt mit dem umgebenden Weiß, verschwindet. Wir gehen weiter, in die Stadt.
Der neue Angestellte an der Rezeption lächelt die Gäste an und zeigt dabei seine schönen weißen Zähne. Ein lustloses, geschäftsmäßiges Lächeln, und wenn er es fallen lässt, sieht er fies aus, hinterhältig und interessant. Er ist doppelt so alt wie ich, aber ich werfe trotzdem ein Auge auf ihn und setze mich auf ein Plüschsofa. Wahrscheinlich ist er verheiratet. Ich ertrinke hier in meiner eigenen Familie, habe keine Privatsphäre, keine Bewegungsfreiheit. Mich überkommt ein übermächtiger Drang, zur Rezeption hinüberzugehen und offen mit dem Mann zu reden, zuzusehen, wie ihm die Kinnlade nach unten fällt und die weißen Zähne ihr Lächeln einstellen. Vielleicht würde er mich abblitzen lassen. Vielleicht auch nicht.
Stattdessen laufe ich die Gänge auf und ab.
Ich trete in einen schummrigen Flur und starre zu den Elchbärten hoch, zu den eigenartigen Plastiknasen von Rehen, die ihre Zunge ein wenig herausstrecken, als stießen sie Laute aus. Ich kriege das Gruseln, als mir wieder einfällt, was Andrew gesagt hat: dass Hunde so schlau sind wie Kinder. Wie schlau sind dann Rehe? Ich betrachte einen ausgestopften Kopf und komme zu dem Schluss: nicht schlau genug. Was für ein grässliches Ende – unter der Haut Holz und Sägespäne, in denen eine Plastiknase und Plastikaugen stecken. Eine Frau schlendert summend vorbei. Massen wogen durch die Lobby, über ihnen lassen riesige Tierköpfe ihre Zungen heraushängen, und niemand stößt sich daran. Außer mir.
Bis die Trauerfeier beginnt, ist die Kirche brechend voll mit einer Unzahl von Hotelgästen. Zu Orgelgebraus und Kindergeplärr kommt der Pfarrer herein, draußen heulen überall die Hunde.
Andrew beugt sich zu mir. »Wenn der Organist tot ist, wer spielt dann die Orgel?«
Beim Gottesdienst sitzen mein Vater an dem einen Ende der Kirchenbank und meine Mutter an dem anderen. Der Rest der Familie klemmt dazwischen. Um nicht wegzudösen, beobachte ich im stillen Kirchenschiff die glattlederne Schuhspitze eines Mannes, die sich leicht hebt und senkt, als hörte der Mann innerlich Musik.
Während der ganzen Trauerrede kämpfe ich gegen furchtbare Müdigkeit.
Otto, sagt der Pfarrer, sei ein guter, freundlicher, anständiger Mensch gewesen, der seine Kinder so mit Liebe überschüttet habe, dass er dadurch zu Seelenreichtum gelangt sei. Er sei großzügig zu seinen Freunden gewesen und großzügig zur Welt, weil er ihr Musik geschenkt habe. Meine Mutter greift schniefend nach meiner Hand. Es folgen ein paar Bibelzitate zu Musik und Gottes Odem. Vom Hotel ziehen die Düfte des Weihnachtsessens herüber. Hunde kratzen jaulend an der geschlossenen Kirchentür.
Vor mir und meiner Mutter sitzen zwei sehr alte Männer. Der eine beugt sich zum anderen und sagt in einem heiseren Bühnenflüstern: »Wir müssen auf der falschen Beerdigung sein.«
»Ich hätte mir Ohrstöpsel reinschieben sollen«, zischt der andere.
Der Pfarrer ist
Weitere Kostenlose Bücher