Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)
sagen wollte. Mein Bruder wirft mir einen wachsamen Blick zu. Er sieht gut aus, und ich verstehe, warum ihn dieses Mädchen verfolgt. Er ist auch nicht schwer von Begriff, denn er steht auf, kommt um den Tisch herum, umarmt mich und klopft mir auf den Rücken. Nach einer Weile setzt er sich wieder hin und greift nach seinem öligen Lumpen.
»Andrew, warum magst du das Mädchen eigentlich nicht? Sie ist doch hübsch, oder nicht?«
»Doch, hübsch ist sie.«
»Und sie mag dich, ja?«
»Sie mag mich, aber sie ist erst fünfzehn.«
»Na und? Du bist doch auch erst siebzehn.«
»Fünfzehn ist schon jung, die hat noch nicht mal alle ihre Zähne. Das ist übrigens wirklich so. Die letzten Zähne kriegst du erst mit einundzwanzig.«
Wenn ich mir meinen Bruder und dann Nick so ansehe, frage ich mich: Fehlt mir vielleicht der klare Blick dafür, wann etwas möglich ist und wann nicht? Damals in der Schule hatte ich eine Diät angefangen, weil ich wollte, dass Marias Bruder mich bemerkt. Ich verweigerte das Weihnachtsessen und saß vor einem Teller trockenem Toast, bis meine Mutter es nicht länger aushielt und mich vom Tisch schickte. Ich hatte mir eine Kleidergröße heruntergehungert und war oft erkältet – alles umsonst. Für Marias Bruder war ich nur ein kleines Mädchen unter vielen anderen, die in Marias Zimmer herumkreischten, nicht beachtenswerter als ein Wurf Welpen.
Sex ist nicht das Problem. Damit scheine ich keine Schwierigkeiten zu haben, und die meisten, die ich mir dafür aussuche, sind nett – der Typ mit dem Bart, der Jurastudent, der Kleinkriminelle, der Weinexperte, der Lastwagenfahrer. Ich mochte sie alle gern. Aber ab und zu schnappe ich mir einen, bei dem mein Verstand aussetzt. Vielleicht liegt es an der Lyrik, vielleicht hat sie irgendwelche Nebenwirkungen.
Dad kommt zur Tür herein und lässt seine Aktentasche, die volle Einkaufstasche und die neue Hundeleine fallen – die letzte wurde verbuddelt.
»Was ist mit Andrews Vorhängen passiert?«, fragt er. Von oben kommt das unverkennbare Geräusch, wie jemand mit dem Rücken an der Wannenwand herumrutscht. Dad sieht Andrew an, sieht mich an, sieht zur Decke hoch, dann geht er ausgiebig fluchend in die Küche.
Die Nacht ist kühl und klamm, der Hund springt im dunklen Garten herum und verbellt ein Eichhörnchen. Das Eichhörnchen vollführt einen Hochseilakt auf der Telefonleitung, vorbei an den Fenstern im Obergeschoss, und verschwindet dann im Schwarz eines Baums. Ich sitze draußen auf einem Gartenstuhl und höre zu, wie sich ein paar Straßen weiter ein paar miese Blues-Bands warmspielen. Nach einer Woche solcher Musik werde ich mich fühlen wie stundenlang mit der Wurzelbürste geschrubbt. Ich wette, dass der erste Song, der jetzt kommt, eine Nummer aus Cats ist. Zu meiner Überraschung gehen die Töne in eine schwindelerregende, sich überschlagende Version von Johnny Cashs »Trouble in Mind« über. Neugierig stehe ich auf und gehe zum Gartentor hinaus, um zu sehen, was da los ist. Dad und Andrew haben sich schon davongemacht, und meine Großeltern schlafen vor dem Fernseher bei abgestelltem Ton, zum lautlosen Geplauder einer Sterneköchin.
Die Leute strömen den Gehweg entlang, müssen oft auf die Straße ausweichen. Straßenbahnen schieben sich, leer und einladend, im Schneckentempo durch die Menge. Im Schaufenster der meisten Restaurants glänzt unter improvisierter Beleuchtung eine Band. Manche Bands haben sich auf dem Gehweg aufgebaut, im Park treten gleich mehrere gegeneinander an, überall liegen Kabel herum, Bühnenscheinwerfer wanken in der Menge. Ich weiß aus Erfahrung, dass es später betrunkene Raufereien geben wird: Dann boxen ein paar Typen in die Luft, und Autos brettern mit quietschenden Reifen die Straße rauf und runter. Ich halte nach meinem Vater oder meinem Bruder Ausschau, doch wen sehe ich stattdessen unter einer schummrigen Laternengirlande? Nick.
Na toll, super, verdammte Scheiße , denke ich, gehe aber trotzdem wie ferngesteuert durch die Menge auf ihn zu. Er sieht mich kommen, dreht sich um und flieht. Eine Frau neben ihm greift nach seinem Hemd, wie man ein Kind packt, das zu viel herumtobt, aber sie greift ins Leere, zuckt mit den Achseln und unterhält sich weiter mit ihren Freundinnen.
Ich folge Nick um die Ecke, in eine von überhängenden Bäumen verdunkelte Seitenstraße. Am Randstein parken Autos, Zäune lehnen sich auf den Gehweg hinaus. Es ist ruhig hier, die Luft ist feucht. Wie auf Droge
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