Himmel über Darjeeling
entschlossen.
»Weshalb?« Seine Worte klangen müde. »Um mir Vorwürfe zu machen, weil ich verschwiegen hatte, dass ich ein Bastard bin, ein Halbinder, dass ich Menschen auf dem Gewissen habe?«
»Nein, nicht deshalb.« Sie senkte ihre Stimme, bis sie nur noch ein Flüstern war vor dem Tosen des Monsuns. »Erzähl mir das Märchen vom Löwen und der Königstochter.«
Ein Blitz zuckte durch die Wolken, und Helena sah die Verwirrung in Ians Gesicht.
»Dann erzähle ich es dir – so, wie ich glaube, dass es sich wirklich zugetragen hat«, fuhr sie mit fester Stimme fort. »Die Königstochter fürchtete sich vor dem Löwen, denn es ist nicht die Natur des Löwen zu lieben. Seine Natur ist die Jagd und das Töten, und die Königstochter wehrte sich mit aller Kraft dagegen, mit ihm verheiratet zu werden, weil sie um ihr Leben fürchtete. Sie wehrte sich dagegen, bis sie das Mal auf seiner Stirn sah, das gleiche, das sie auch von Geburt an auf ihrer Stirn trug. Da erkannte sie, dass es kein gewöhnlicher Löwe, seine Natur eine andere war, so wie sie keine gewöhnliche Königstochter – sie waren füreinander bestimmt. Und sie fürchtete sich nicht mehr, sondern verliebte sich in den Löwen.« Das Krachen des Donners fiel ihr ins Wort, und sie wartete, bis er abgeebbt war, ehe sie weitersprach. »Du hattest Recht, Ian, damals auf der Koppel: Wir sind uns ähnlich – sehr ähnlich. Wir tragen dasselbe Mal auf der Stirn. Unsere Eltern haben einander mehr geliebt als uns, und das hat uns zu Waisen gemacht, ohne Heimat, ohne Wurzeln. Was sie für diese Liebe getan haben, hatte Konsequenzen, und diese waren das unglückselige Erbe, das sie uns hinterlassen haben. Was wir aber tun – das liegt allein in unseren Händen.« Sie schluckte, nahm alle Kraft zusammen und sagte laut: »Hör auf, Ian. Lass die Toten ruhen. Deine Jagd ist hier zu Ende.«
Er stand auf, unsicher, tastend, mehr vor Überraschung denn Trunkenheit, tat ein paar Schritte auf sie zu, blieb vor ihr stehen. Lange sah er sie an, als sähe er sie zum ersten Mal in seinem Leben, fuhr sacht mit dem Handrücken über ihre Wange, als müsste er spüren, dass sie wirklich war.
»Ja, das ist sie«, sagte er schließlich heiser. Er wollte noch etwas hinzufügen, stockte, zögerte, dann zog ein Lächeln über sein Gesicht. »Bitte bleib, meine Löwin.« Und die raue Zärtlichkeit, die darin mitschwang, ließ Helenas Herz sich zusammenkrampfen, dann groß und weit werden.
Als er sie festhielt, während der Monsun auf die Teefelder hinabrauschte, auf das Holz trommelte, die Luft klarwusch, den Duft von nassem Laub, feuchter Erde und den ewigen Bergen mit sich brachte, so fest, dass sie kaum mehr atmen konnte, wusste Helena: Sie war angekommen.
Epilog
Shikhara, April 1879
H elena ruckte am Zügel und ließ Lakshmi anhalten, die sogleich anmutig ihren Kopf senkte und mit ihrem weichen Maul im Gras umhersuchte, schließlich genüsslich ganze Büschel davon herausrupfte und vergnügt mit den Ohren wackelte. Mit einem tiefen Atemzug stützte Helena sich auf den Sattelknauf und ließ ihre Blicke schweifen. Eine leichte Brise von den Bergen ließ die Blätter der Teesträucher erzittern. In ihrem Hauch wirkten die Felder wie ein sanft gekräuseltes sattgrünes Meer, und ihr Duft hing süß in der klaren, sonnenwarmen Luft. Lachen drang zu ihr herauf, und wie bunte, nickende Vögel bückten sich die Frauen, pflückten ihre two leaves and a bud und warfen sie geschickt in die Körbe auf ihrem Rücken. Von weitem konnte sie das Rattern der Maschinen in der Manufaktur hören, die den first flush dieses Jahres bearbeiteten. Es würde ein vorzüglicher Tee werden, fast noch besser als der des vorigen, aber er verlangte ihnen allen auch sehr viel ab. Dieser Ausritt ohne besonderen Grund war zu dieser Jahreszeit ein unerhörter Luxus, gab es auf den Feldern, in der Manufaktur, in und um das Haus doch so viel zu tun, aber Ian und sie hatten ihn sich einfach gegönnt.
Neben Lakshmis schlanken, lackschwarzen Kopf schob sich der massive Schädel Shivas, als der Hengst neugierig die Mahlzeit seiner Tochter beäugte, ehe er sich ebenfalls daran gütlich tat, und Helena sah auf.
Der Wind fuhr durch Ians gewelltes, dunkles Haar, und seine geschwungenen Lippen kräuselten sich unter seinem Bart zu einem Lächeln.
»Du siehst glücklich aus.«
Helena sah ihn einen Moment lang nur an, wie er auf seinem Pferd saß, die Ärmel seines Hemdes hochgerollt, seine Haut leicht gebräunt
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