Himmel ueber fremdem Land
apathisch wie ihre Freundin. Sie ahnte, dass jede Minute zählte. Sollte Lina nicht inzwischen zu Hause eingetroffen sein, mussten sie Schlimmes annehmen und umgehend die Polizei verständigen!
Auf der linken Straßenseite standen mehrere zweistöckige Stadtvillen, ihnen schloss sich ein Birkenhain an. Dem Wäldchen gegenüber, von einem schmiedeeisernen Zaun auf einem niederen Mäuerchen und einem großen Garten umgeben, befand sich eine eher nüchtern wirkende Villa. In der Mitte des Gebäudes, direkt über dem Eingang, thronte ein Turm, der einzige Schmuck des ungewohnt stuck- und säulenfreien Hauses, das Demy fast heimelig anmutete.
»Das ist es«, flüsterte Margarete.
»Bitte läute du. Ich bin Herrn Barna noch nie zuvor begegnet. Ich rede mit ihm, aber ich brauche dich an meiner Seite!«
»Ist gut.« Margarete straffte die Schultern und griff nach dem eisernen Gartentor, das sich quietschend öffnen ließ. Die Mädchen fassten sich an den Händen und stiegen nebeneinander die drei Stufen hinauf.
Mit zitternder Hand zog Margarete an dem Metallbogen neben der Eingangstür, der im Inneren des Hauses eine tief klingende Glocke zum Klingen brachte.
Für ihr Empfinden dauerte es entsetzlich lange, bis ihnen ein rundlicher Mann mit grauem Backenbart, wild abstehenden grauen Haaren und einem etwas verloren wirkenden Blick öffnete.
»Ach, Fräulein Pfister.« Professor Barnas Augen huschten über Demy hinweg und suchten den langen schmalen Pflasterweg zum Tor ab. »Wo ist Lina?«
In ihren Ohren hörte Demy unangenehm laut das Rauschen ihres eigenen Blutes. Ihr Herz klopfte kräftig. Lina war also nicht nach Hause zurückgekehrt! Die bisher durch einen Funken Hoffnung im Zaum gehaltene Panik wollte nun doch von ihr Besitz ergreifen.
War ihre Freundin noch immer in den verwinkelten Gassen des Scheunenviertels gefangen? Oder befand sie sich gar in Gefahr?
»Was ist?« Professor Barnas Blick blieb an Demy hängen, und er runzelte die Stirn, was seine Bügelbrille tiefer auf die rundliche Nasenspitze hinunterrutschen ließ.
Das Mädchen schluckte hörbar. »Ich fürchte, Lina ist verschwunden, Herr Professor.«
»Verschwunden?« Der Physikprofessor wandte sich sichtlich verwirrt an Margarete, der mittlerweile die lange unterdrückten Tränen ungehindert über das Gesicht liefen.
Auf seinen Wink hin folgten die beiden Mädchen Linas Vater in das Haus. Er führte sie in einen mit altrosafarbenen Polstersesseln gemütlich eingerichteten Salon, dessen hohe, überfüllte Bücherregale zum einen den intellektuellen Hintergrund des Hausherrn, zum anderen auch die Vorlieben seiner Tochter widerspiegelten.
»Was heißt das, Lina ist verschwunden? Wo? Weshalb?«
Innerhalb kürzester Zeit entlockte der Mann ihnen alle relevanten Fakten und ging daraufhin zum Telefon hinüber, da er die Polizei einzuschalten gedachte. In diesem Augenblick klang das Läuten der Eingangsglocke dumpf durch das Haus.
»Vielleicht ist sie das!«, stieß Margarete aufgeregt hervor und eilte zu Demy, um sie am Arm zu ergreifen.
Eng umschlungen blieben die beiden Mädchen zurück, während der Professor in den Flur hastete und dabei die Tür zum Salon einen Spaltweit geöffnet ließ.
Demy hörte die zitternde Margarete ein Gebet murmeln. Eine ihr entfernt bekannt vorkommende Männerstimme veranlasste sie allerdings, sich von Margarete zu lösen und an die Tür zu gehen. Sie wollte nicht beim Lauschen erwischt werden, deshalb spitzte sie vorsichtig durch den Spalt in den quadratisch angelegten Flur. Zu ihrem Leidwesen verbarg Professor Barnas Gestalt den Besucher an der Tür. Doch als beide Männer das Haus verließen, zögerte Demy nicht einen Moment, bevor sie ihren Lauschposten aufgab und mit flinken Schritten über den dunklen Teppich zum Eingangsbereich huschte.
Am Straßenrand stand eine Kutsche, an deren offenem Schlag sich sowohl der Fahrer als auch Professor Barna beschäftigten.
Gespannt riss Demy ihre Augen auf, als sie den Ärmel von Linas weißem Kleid erspähte. Lina war zurück! Aber was war mit ihr? Weshalb stieg sie nicht aus?
Endlich gelang es den Männern, die junge Frau aus dem Gefährt zu holen, und der Chauffeur trug sie zum Haus. Demy warf einen Blick auf sein Gesicht und wich erschrocken zurück. Es handelte sich um Bruno, den Kutscher der Familie Meindorff.
Rückwärts wich Demy von der Tür zurück, wandte sich um und floh in den Salon. Falls Bruno Lina im Scheunenviertel gefunden hatte, durfte er nicht
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