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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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allein zu lassen. Johanna mied den Spiegel wie Gift, bis sie den Rock zurechtgezogen und die Jacke zugeknöpft hatte.
    Anfangs betrachtete sie nur das Kostüm. Es war gut. Es passte gut – der Rock ungewohnt kurz, aber an der ungewohnten Machart lag es nicht. Das Problem war nicht das Kostüm, sondern das, was daraus hervorschaute. Ihr Hals und ihr Gesicht und ihre Haare und ihre großen Hände und ihre dicken Beine.
    »Wie kommen Sie zurecht? Darf ich mal schauen?«
    Schauen Sie, so viel Sie wollen, dachte Johanna, aus grober Wolle wird nie ein feines Tuch, das werden Sie gleich sehen.
    Die Frau betrachtete sie erst von einer Seite, dann von der anderen.
    »Dazu brauchen Sie natürlich Ihre Nylons und Ihre hohen Absätze. Wie fühlt es sich an? Bequem?«
    »Das Kostüm fühlt sich gut an«, sagte Johanna. »An dem Kostüm ist nichts auszusetzen.«
    Das Gesicht der Frau veränderte sich im Spiegel. Sie hörte auf zu lächeln. Sie sah enttäuscht und müde aus, aber freundlicher.
    »Manchmal ist das eben so. Man merkt es erst, wenn man etwas anprobiert. Der Haken ist«, sagte sie, wobei in ihrer Stimme neue, wenn auch gemäßigtere Überzeugung aufklang, »der Haken ist, Sie haben eine gute Figur, aber eine kräftige Figur. Sie sind grobknochig, na und? Zierliche Samtknöpfchen sind nichts für Sie. Quälen Sie sich nicht mehr damit. Ziehen Sie es einfach aus.«
    Dann, als Johanna wieder in ihrer Unterwäsche dastand, pochte es, und eine Hand reichte durch den Vorhang.
    »Ziehen Sie das mal über, einfach so.«
    Ein braunes Wollkleid, gefüttert, mit hübsch gerafftem Glockenrock, Dreiviertelärmeln und schlichtem runden Ausschnitt. Schlichter ging es nicht, bis auf den schmalen goldenen Gürtel. Nicht so teuer wie das Kostüm, dennoch ein stolzer Preis, wenn man bedachte, dass so gut wie nichts dran war.
    Wenigstens hatte der Rock eine schicklichere Länge, und der Stoff wirbelte elegant um ihre Beine. Sie wappnete sich und schaute in den Spiegel.
    Diesmal sah sie nicht aus, als wäre sie zum Scherz in dieses Kleidungsstück gesteckt worden.
    Die Frau kam und stand neben ihr und lachte, aber vor Erleichterung.
    »Es liegt an der Farbe Ihrer Augen. Sie brauchen keinen Samt zu tragen. Sie haben Samtaugen.«
    Solchem Schmus wäre Johanna sonst mit Hohn begegnet, in diesem Moment allerdings schien er zu stimmen. Ihre Augen waren nicht groß, und wenn sie nach der Farbe gefragt worden wäre, hätte sie gesagt: »Wohl so ein Braunton.« Aber jetzt sahen sie wirklich dunkelbraun aus, weich und leuchtend.
    Nicht, dass ihr plötzlich in den Kopf gekommen wäre, sie sei hübsch oder dergleichen. Nur, dass ihre Augen eine hübsche Farbe hätten, wenn sie ein Stück Stoff wären.
    »Ich möchte wetten, dass Sie nicht oft Pumps tragen«, sagte die Frau. »Aber wenn Sie Nylons anhätten und nur ein bisschen Absatz … Und ich wette, Sie tragen auch keinen Schmuck, und Sie haben ganz Recht, das brauchen Sie auch nicht bei dem Gürtel.«
    Um das Verkaufsgeschwafel zu beenden, sagte Johanna: »Dann ziehe ich es mal aus, damit Sie es einpacken können.« Sie bedauerte, dass sie das sanfte Gewicht des Rocks und das dezente goldene Band um ihre Taille nicht mehr spürte. Sie hatte noch nie in ihrem Leben dieses komische Gefühl gehabt, von dem, was sie anzog, verschönt zu werden.
    »Ich hoffe doch, es ist für einen besonderen Anlass«, rief die Frau, als Johanna rasch in ihre jetzt schäbig wirkenden Alltagssachen schlüpfte.
    »Es ist wahrscheinlich das Kleid, in dem ich heiraten werde«, sagte Johanna.
    Sie war überrascht, das aus ihrem Mund kommen zu hören. Es war kein schlimmer Fehler – die Frau wusste nicht, wer sie war, und würde wahrscheinlich auch mit niemandem reden, der es wusste. Trotzdem, sie hatte sich vorgenommen, absolutes Stillschweigen zu bewahren. Es war wohl das Gefühl, dieser Person etwas zu schulden – dass sie zusammen die Katastrophe des grünen Kostüms und die Entdeckung des braunen Kleides erlebt hatten und dadurch einander verbunden waren. Was Unsinn war. Diese Frau hatte die Aufgabe, Kleidung zu verkaufen, und das war ihr gerade gelungen.
    »Oh!«, rief die Frau aus. »Oh, das ist ja wunderbar.«
    Ja, vielleicht, dachte Johanna, aber vielleicht auch nicht. Schließlich konnte sie irgendwen heiraten. Einen armseligen Farmer, der ein Arbeitstier brauchte, oder einen röchelnden alten Halbkrüppel, der eine Pflegerin suchte. Diese Frau hatte keine Ahnung, was für einen Mann sie im Visier hatte,

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