Himmelsspitz
Lenkrad los und klatschte sich auf seine Schenkel. »Klaps.« Klatsch.
Irgendwann, kurz vor Nürnberg, hatte Horst seine Gedanken in andere Bahnen gelenkt. Zufriedenheit machte sich breit, denn er entsann sich der Macht seines Opel Kapitäns. »Ah, wie der Wagen schnurrt. Isabel, meine Beste«, er tätschelte ihren Oberschenkel. »Wir werden das Kind schon schaukeln.« Dann fuhr er über ihr Bein, immer höher, bis er die Spitzen ihrer Wäsche spürte.
Isabel betrachtete das Treiben seiner fleischigen Hand, wie sie Besitz von ihr ergriff, mit dem blauen Siegelring, den glänzenden Manschettenknöpfen, der goldenen Omega. Und sie schauderte.
Wie sehr hatte sich ihre Welt verändert, seit Horst vor drei Jahren in ihr Leben getreten war. So vieles hatte sich ihr entfremdet, das Vertrauen, die Zuversicht, die Liebe, vor allem aber sie sich selbst, denn ihre einst eigenwillige, impulsive Natur hatte sich gewandelt in jene Biederkeit, die Männern wie Horst gefiel: feinste Wäsche, enge, elegante Röcke, hohe Schuhe, die wilden Locken gezähmt und hochgesteckt, Perlen in den Ohren und teure Ringe an den Händen. Das schnelle Ende ihres ebenso leidenschaftlichen wie kurzen Abenteuers mit Leas Vater und die nachfolgende Verbitterung führten zur allmählichen Veränderung nicht nur ihrer äußerlichen Erscheinung, sie ließ auch ihre Seele erkalten. Bereit, alles zu geben, um nie mehr zu verlieren, wurde sie nach etlichen halbherzigen Affären zur kühlen Schönen an der Seite eines erfolgreichen Immobilienmaklers, der, so schien es zumindest, seine große Erfüllung darin fand, Isabel, seine Isabel, attraktiv und gut versorgt zu sehen.
Seine Hand mühte sich ab, als sie Isabels Beine auseinanderspreizte. Auf seinem Gesicht bildete sich feuchter Glanz. Horst steuerte den Wagen auf die rechte Fahrbahn.
Isabels Augen blickten starr nach vorn, als suchten sie am Horizont nach Bedeutsamkeit, in ihrem Gesicht lag Anstrengung, ihre Sinne spürten nichts, sie waren den Gedanken tief ins Innere gefolgt. Die Autobahn war leer, offizieller Ferienanfang war erst in einem Monat, doch die Schule hatte Lea auf Empfehlung ihres Therapeuten schon ein paar Wochen früher vom Unterricht befreit.
»Was ist bloß mit Ihrem Kind los?«, hatten die Lehrer gefragt. »Lea macht uns langsam Sorgen. Sie beteiligt sich immer weniger am Unterricht, träumt nur, und in letzter Zeit schläft sie auch noch öfters ein. Während der Schulpausen steht sie im Abseits. Merkwürdig, Ihr Kind, sehr merkwürdig. Sie sollten mal einen Arzt konsultieren!« Mit ihren Beobachtungen hatten die Lehrer bestätigt, was Isabel seit einiger Zeit mit Sorge selbst bemerkt hatte: Leas Verhalten wurde immer befremdlicher.
Vor einem Jahr begannen dann auch noch die nächtlichen Unruhen. Zunächst schlief Lea nur schlecht ein und wachte in der Nacht öfter auf. Irgendwann fing sie damit an, mit ihrem Kopf in die Kissen zu schlagen, bis sie halb bewusstlos in einen kurzen Schlaf fiel, aus dem sie dann ein Albtraum riss. Schließlich begann sie auch noch schlafzuwandeln.
Früher hatte Isabel sie geschimpft, wenn Lea nachts umhergeirrt war, vor allem, wenn sie dabei das Haus verlassen hatte und im Garten umhergeschwebt war wie ein Geist, unheimlich, aschgrau, mit starrem Gesicht und geweiteten Augen. Oft erwachte sie an den seltsamsten Örtlichkeiten, mal im untersten Regal des Bücherschranks, mal im Badezimmer unter dem Waschbecken oder im Garten neben der Gießkanne. Eine Zeit lang hatte Isabel die Kinderzimmertür abgesperrt, dann aber ließ Lea die Furcht vor Enge nicht einschlafen, und sie weinte ohne Unterlass. »Meine Kleine, wie kann ich dir nur helfen? Ich bin so ratlos«, hatte Isabel geklagt, und Horst hatte mit noch mehr Strenge gedroht, als Lea ohnehin von ihm bereits erfuhr. Als Lea auch noch begann, laute Schreie durch die Nacht zu schicken, sodass man in der Nachbarschaft munkelte, das Kind sei nicht ganz normal, und die Lehrer zunehmend ungehaltener wurden, weil das Kind in der Schule schlief, anstatt aufzupassen, konsultierte Isabel Doktor Henning, den besten Psychologen, den Hamburg zu bieten hatte, wie Horst versichert hatte.
»Es tut mir leid, was ich Ihnen nun mitteilen muss«, sagte Doktor Henning nach der ersten Sitzung mit Lea. »Aber Ihre Tochter leidet unter sämtlichen Formen der Parasomnien, angefangen von Jactatio capitis nocturno, dem Kopfschlagen, bis hin zu Somnabulismus, auch Schlafwandeln genannt. All das weist darauf hin, dass Lea von
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