Himmelsspitz
werd’s zeigen.«
Die Einzige im Ort, die früher, als sie beide noch klein waren, sprudelnde Worte aus seinem ansonsten verschlossenen Mund hatte vernehmen dürfen, war Agnes, die Tochter des Kraxnerbauern. Sie war so alt wie er und brachte täglich den Schulstoff aus dem Tal mit. Doch das Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschte Fertl viel früher als all die anderen Kinder. Und während diese auf ihren Schultafeln noch das ABC kritzelten, saßen Fertl und Agnes in der Tenne. Fertl hielt das große Balladenbuch, das er aus einer Truhe seiner Mutter genommen hatte, auf seinen Knien und las vor. Agnes lag bäuchlings im Heu und wippte ungeduldig mit den Füßen, wenn er zwischendurch anhielt und fragte: »Soll ich weiterlesen?«
Als Agnes Brüste wuchsen und sich die Männer den Kopf nach ihr zu verdrehen begannen, meinte ihr Vater, der Kraxnerbauer, es würde sich nicht schicken, wenn sie ihre Zeit unsinnig mit Büchern verbrächte, heimlich in der Tenne und noch dazu mit einem Mann wie dem sonderbaren Fertl.
Folgte man dem Pfad ungefähr zehn Meter weiter die Hügeltreppe hinauf, stand rechts eine Kapelle, erbaut im Jahr 1750.
O Maria sei gegrüßt!
Mutter voll der Gnaden bist.
Bitt für uns bei Deinem Sohn,
bis wir stehn vor Gottes Thron.
Dies stand über der Eingangstür geschrieben.
Während des Ersten Weltkriegs hatte sich der kleine Fertl dort drei Tage lang versteckt, nachdem italienische Soldaten über den Weiler hergefallen waren und dabei Mutter und Vater Granbichler erschossen, weil sie sich geweigert hatten, das Versteck für die letzten Lebensmittel zu verraten, die die Familie noch hatte.
Fertl war so zart und dünn, dass er genau hinter die geschnitzte Skulptur der Heiligen Maria passte. Wo er seine spätere Liebe für Figuren und Schnitzereien entdeckt haben muss, darüber rätselte kein Fuchsbichler mehr.
Für Fertl stellte sich am verhängnisvollen Tag des Schützenfestes die wichtigste Frage seines Lebens: Hätte er den unguten Verlauf der Ereignisse verhindern können?
Robert Granbichler war der ältere Bruder von Fertl. Er bewohnte den Hof, der links hinter der Kapelle stand. Robert war Schäfer und hatte früher eine stolze Herde von über 50 Schafen besessen, die er jeden Sommer über das Sauner Joch ins benachbarte sonnige und fruchtbare Sulztal trieb. Dort ließ er seine Tiere drei Monate auf den satten Wiesen weiden und brachte sie zurück, bevor der erste Schnee fiel.
Eines späten Tages sah er in der Einsamkeit des Sauner Jochs eine junge Frau auf einem Stein sitzen. Bibel und Rosenkranz in den Händen, den Kopf gesenkt, schien sie ins Gebet vertieft. Sie trug dunkelrote, dichte Zöpfe und grünen Loden. Neben ihr lagen ein Rucksack und ein Hütehund, den Kopf zwischen den Vorderpfoten.
Robert rief ihr von Weitem zu.
»Hallo Fräulein, was machen Sie hier so allein?« Der Hund erhob sich, schüttelte sein zerzaustes Fell und wedelte freudig mit dem Schwanz. Doch die Frau rührte sich nicht, und als er näher kam, sah er, dass sie ihre Augen geschlossen hielt.
»Grüß Gott, wohin des Weges?«, fragte er sie.
Weil seine Worte nicht gehört wurden, berührte er die Betende an der Schulter, woraufhin ein Blitz sie durchzuckte, den Gott nicht heftiger vom Himmel hätte schleudern können. Sie stieß einen stummen Schrei aus, so jedenfalls schien es ihm, als er ihren weit geöffneten Mund sah. Die eine Hand hielt sie schützend vor die Augen, die andere griff in das Fell des Tieres. Es dauerte eine Weile, bis sich die junge Frau beruhigt hatte.
»Ich tu Ihnen nichts, ich wollt Sie nur fragen, ob ich helfen kann. Was machen Sie hier so allein? Es wird bald dunkel. Ich bin übrigens der Robert.«
Doch die Frau schwieg. Nur ihre moosgrünen Augen sprachen in einer betörend schönen Sprache, und irgendwann verstand der junge Granbichler, dass es für die Unbekannte keine andere Sprache gab.
Auf einem kleinen Block, der in ihrer Joppentasche steckte, schrieb sie alles auf.
Ihr Name war Cilli. Sie hatte sich auf ihrer Wanderung nach St. Hedwig, einem Wallfahrtsort im Sundertal, verirrt. Sie war auf dem Weg zu Gott, wollte ihn bitten, ihr endlich eine Sprache zu verleihen, auf dass die Menschen sie verstünden.
Die Fuchsbichler schüttelten heimlich den Kopf, als Robert eine Taubstumme ehelichte. Doch dieser war so voller Liebe und Gefühl, dass es keiner hörbaren Worte bedurfte. Gott hatte Cillis Flehen wohl gehört, denn er schenkte dem Ehepaar eine
Weitere Kostenlose Bücher