Himmelsspitz
und die Hühner, die im Boden rund ums Haus scharrten, hatten auch bessere Tage gesehen.
Der Sohn vom Oswin war im Krieg gefallen, die Tochter hatte ins andere Tal geheiratet und die Frau Kneisl hatte längst der Tod heimgesucht, den Oswin nun mithilfe selbst gebrannten Schnapses herbeitrank. Wenn die Sonne schien, saß er auf der Bank vorm Haus. Die Wärme tat seinem Rheuma im Buckel gut, den er seit seinem 16. Lebensjahr hatte. Schien die Sonne nicht und kam die Kälte, schmierte er Katzenfett auf die plagenden Stellen.
Er trug einen dichten, borstigen Bart. Aus seiner Nase wuchsen störrische Haare, vom Tabak dunkelgelb verfärbt. Der alte Kneisl schnupfte seit seinem 14. Lebensjahr. Den ersten Tabak hatte er dem Vater geklaut und in einer selbst geschnitzten Dose aus Birkenholz aufbewahrt. Das Tabakstehlen war sein harmlosestes Delikt gewesen. Seine wahre Leidenschaft hatte nämlich von jeher dem Wildern gegolten. Er schoss auf alles, was sich im Bergwald bewegte, Gämse, Rehe, Füchse und manchmal auch auf streunende Katzen. Die Kadaver weidete er an verborgener Stelle aus, die Katzen aß er selbst, das andere Fleisch verkaufte er an hungrige Soldaten, die die Bergwälder durchstreiften.
Auf diese Weise verdiente er etwas Geld, das er am Sonntag im Tal verzechte.
Das Wildern hatte seine Seele derart im Griff, dass er auf jeden Schatten zielte, den seine Augen ausmachen konnten, ohne zu wissen, ob dieser zu einem Menschen-oder Tierkörper gehörte. So war es einmal zu einem schrecklichen Jagdunfall gekommen, wie es später im örtlichen Anzeiger hieß. Oswins Kugel traf aus Versehen einen verirrten Landstreicher, dessen Tod niemand bemerkt hatte, bis eine Mure seine von Füchsen und Dachsen abgeknabberten Knochen ins Tal schleuderte, wo sie von einem Wanderer gefunden wurden. Anhand der blechernen Erkennungsplakette aus dem Ersten Weltkrieg, die an einem Knochen baumelte, konnte man ihn identifizieren. Oswin als Täter ausfindig zu machen, das war jedoch nicht möglich. Und so blieb der alte Kneisl sein Leben lang sein einziger Zeuge. Fast. »Herr, es war doch nur ein Versehen«, beichtete er nämlich dem Herrgott und zündete für die arme Seele jeden Sonntag in der Kirche eine Kerze an.
An jenem ereignisreichen Tag des Schützenfestes war Oswin nachmittags bereits derart betrunken, dass er die turbulenten und tragischen Ereignisse auf der Bank vor seinem Haus verschlief.
Hinter dem Kneislhof lagen drei Gehöfte, deren Bewohner nicht unmittelbar in die Geschichte involviert waren, deren Namen folglich nichts zur Sache tun.
Hatte man diese Höfe hinter sich gelassen, gelangte man zum bescheidenen Häuschen des Fertl Granbichler.
Fertl lebte allein, heiraten hatte er nie gewollt. Von Geburt an war er zart, schwächlich und häufig krank. Den weiten und beschwerlichen Schulweg ins Tal schaffte er nur selten, deswegen unterrichtete ihn seine Mutter selbst, die die Tochter eines bekannten Dichters war und ins Granbichlersche Bauernleben eingeheiratet hatte.
Fertl liebte die Künste, das Schnitzwerk, mit dem er sich seine paar Groschen verdiente, und die Dichtung. Im Weiler hieß es, er habe sich seine Frau geschnitzt. Sie stand in der Stube, unter dem Kruzifix, in festlicher Tracht und mit einem schönen goldenen Haarkranz. Daneben hing in einem selbst geschnitzten Rahmen der Spruch:
Nun wird es still, und tiefe Einsamkeit
Wogt hin und her. Das Lüftchen, das noch wehte,
Wo ist es? Steh’n hier stille Welt und Zeit?
Ja, Berge steh’n: doch ach, Bestand erflehte
Kein Mensch, hin fährt er, wie an Alpenzinnen
Die Wolken lautlos zieh’n und stumm zerrinnen.
Seine Tage verbrachte Fertl in der Werkstatt hinterm Haus, einem dunklen Raum, der vollgestopft war mit allerlei Holzsachen zum Richten oder Kaufen: Stubengetäfel, Treibkübel zum Buttern, Kasten, Truhen, Stühle, Kraxen und Besenstiele. In der Ecke türmte sich Gehölz, vor allem das der Zirbenkiefer, aus dem er Schüsseln und Teller drehte. In einem Regal lagen kleine, kunstvoll geschnitzte Holzfiguren. Der Boden war mit Sägespänen übersät. Am Fenster stand ein Schreibpult mit einer kleinen Lampe. Dort las und schrieb der Fertl Gedichte und Geschichten.
Bei den Fuchsbichlern galt der junge Granbichler als Sonderling. Wenn die Bauern kamen, um ihm ihre Sachen zur Reparatur zu bringen, wechselten sie nur wenige Worte mit ihm: »Fertl, geht’s gut? Was macht die Schnitzerei?« Seine Antworten waren stets karg: »Das Leben
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