Der Mann im Park: Roman (German Edition)
Stockholm 1928
1
Er schaute auf die Uhr. Es war kurz vor drei.
Das Werftgelände lag dunkel und verlassen da. Die großen, leeren Gebäude erschienen ihm wie reglose Schattengestalten. Er befand sich unten am Wasser, schaute über den Sund. Auf der anderen Seite standen einige Häuser. Links lag die schwach beleuchtete Holzbrücke.
Er schob sich den Hut zurecht und schaute auf seinen schwarzen Anzug hinab. Der war neu gekauft, saß jedoch schlecht. So war es meistens. Er war schlank, und wegen seiner breiten Schultern passten die Sachen oft nicht richtig. Den schwarzen Regenmantel hatte er in eine Tasche gepackt, er war so blutverschmiert, dass er ihn nicht anziehen konnte.
Er zündete sich eine Zigarette an und nahm ein paar tiefe Züge. Er dachte daran, wie er hierhergekommen war. Nach all den Jahren war er schließlich auf dieser dunklen, verlassenen Werft auf Djurgården gelandet. Der Weg hierher war nicht gerade verlaufen, sondern in vielen Windungen bergauf und bergab, doch er hatte ihn unerbittlich hierhergeführt.
Die Nacht war klar, im Wasser spiegelte sich der Vollmond. Er hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass das Leben selbst schuld daran war, dass er auf die schiefe Bahn geraten und schließlich zum Mörder geworden war. Erniedrigung und Gleichgültigkeit hatten ihn geformt. Er hatte keine nennenswerten sozialen Kontakte. Die Menschen, die er traf, interessierten ihn ebenso wenig wie die monotone Arbeit, die er die vielen Jahre hindurch getan hatte. Jetzt lebte er überwiegend von Taschendiebstählen in den Geschäftsstraßen von Norrmalm und auf dem Hauptbahnhof; das brachte mehr ein. Ab und zu knackte er Autos; oft lohnte sich das nicht, aber manchmal war es die reinste Goldgrube. Oft gehörten die Autos reichen Leuten. Er hatte schon teure Anzüge erbeutet. Champagner. Dicke Brieftaschen. Hin und wieder brach er auch in Villen in den feineren Wohngegenden ein. In Holzhäuschen in Äppelviken. Sommerhäuser auf Stora Essingen.
Eine Verbrecherlaufbahn. Anfangs war sie voller Überraschungen gewesen. Inzwischen war ihm fast genauso langweilig wie früher, als er sein Geld noch auf ehrliche Weise verdient hatte.
Der Mann im Anzug rauchte seine Zigarette und strich sich mit der linken Hand übers Kinn. Seit drei Tagen hatte er sich nicht mehr rasiert. Das lag in erster Linie an der Anspannung der letzten Monate. Normalerweise achtete er sehr auf sein Äußeres.
Er warf den Zigarettenstummel auf den Boden und drückte die Glut mit der rechten Schuhspitze aus. Dann hob er den Stummel auf und steckte ihn ein.
Als Teenager hatte er in Läden geklaut, meistens Kleinigkeiten. Allmählich hatte er seine Technik verfeinert, allerlei Tricks und Kniffe gelernt. Nie war er erwischt worden.
Letzte Nacht hatte er einen Schritt in eine andere Richtung getan. Einen Schritt, zu dem er gezwungen gewesen war. Das erleichterte ihn, gleichzeitig fühlte er sich verwirrt, fast schwindlig. In dieser Nacht hatte er einen Menschen getötet.
Er drehte sich um und ging durch die Dunkelheit. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Er blieb vor einem großen Gebäude aus Wellblech stehen, öffnete die Tür und trat ein.
Drinnen war es sehr dunkel, überall stapelte sich Gerümpel: Bretter, verrostete Motoren und Blechplatten. Früher einmal, vor nicht allzu langer Zeit, hatten hier Menschen gearbeitet. Jetzt war die Werft stillgelegt und verfiel.
Vorsichtig stieg er eine wacklige Holztreppe hinauf.
Die obere Etage war viel kleiner, höchstens ein Drittel vom Erdgeschoss. Er zündete eine Petroleumlampe an, die gleich neben der Treppe auf dem Boden stand.
Um einen Holztisch standen ein paar Holzstühle. Unter einem Fenster befand sich eine schmutzige Badewanne. In ihr lag die Tasche mit seinen Sachen: der Strick mit der Schlinge. Der Knüppel, in ein blutiges Handtuch gewickelt. Kurze Hosen. Wäsche. Die Laufschuhe.
Das Mädchen lag auf dem Boden. Er konnte deutlich das Blut in ihrem blonden Haar erkennen. Und die Blutlachen um sie herum. Die dicken Spritzer über ihrem Kopf. Sie hatte stark geblutet, als er sie mit dem Knüppel erschlagen hatte, aber er nahm an, dass sie nicht lange gelitten hatte.
Er stand auf und ging vorsichtig um das Blut herum, achtete darauf, nicht hineinzutreten.
Sie hieß Ingrid. Vor vier Wochen hatte er sie das erste Mal allein im Vasapark getroffen und mit ihr gesprochen. Anfangs war sie sehr schüchtern gewesen. Er hatte ihr Kleingeld für Glanzbilder gegeben. Seitdem war er jeden
Weitere Kostenlose Bücher