Himmlische Wunder
sich Emotionen, die zu komplex waren, um sie zu identifizieren.
»Sie hat gesagt, Sie hätten nicht richtig für mich gesorgt. Sie hat gesagt, Sie hätten nichts mit mir anzufangen gewusst. Aber sie hat den kleinen Glücksbringer bei ihren Tarotkarten aufbewahrt, und sie hat die Zeitungsausschnitte gesammelt, und bevor sie gestorben ist, wollte sie mir alles erzählen, denke ich, aber ich habe es ihr nicht geglaubt – ich wollte es damals einfach nicht glauben.«
»Ich habe immer dieses Lied gesungen. Ein Schlaflied. Erinnern Sie sich daran?«
Einen Moment lang schwieg ich. Ich war damals achtzehn Monate alt. Wie sollte ich mich da an ein Lied erinnern?
Und plötzlich fiel es mir ein. Das Schlaflied, das wir immer sangen, um den Wind abzuwenden, das Lied, das die Wohlwollenden besänftigt –
»V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,
V’là l’bon vent, ma mie m’appelle,
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,
V’là l’bon vent, ma mie m’attend –«
Und nun öffnete sie den Mund und stieß einen Schrei aus, einen lauten, gequälten, hoffnungsvollen Schrei, der die Luft zerriss wie ein Flügelschlag. »Das war’s. Genau das war’s!« Ihre Stimme bebte,und sie stürzte mir entgegen, die Arme ausgebreitet wie ein ertrinkendes Kind.
Ich fing sie auf, sonst wäre sie hingefallen. Sie roch nach alten Veilchen und nach Kleidern, die zu lange nicht getragen wurden, nach Mottenkugeln, Zahncreme, Puder und Staub – so ganz anders als der vertraute Sandelholzduft meiner Mutter, dass mir fast die Tränen kamen.
»Vianne«, sagte sie. »Meine Vianne.«
Und ich hielt sie fest, genau wie ich meine Mutter in den Tagen und Wochen vor ihrem Tod festgehalten habe, und ich tröstete sie mit leisen Worten, die sie nicht hörte, die sie aber trotzdem ein wenig beruhigten, und schließlich begann sie zu schluchzen, es waren die tiefen, erschöpften Klagelaute einer Frau, die mehr gesehen hat, als ihre Augen ertragen konnten, die mehr gelitten hat, als ihr Herz verkraftete.
Geduldig wartete ich ab, bis das Schluchzen nachließ. Als nur noch ein leises Beben durch ihren Körper ging, wandte sie ihr tränennasses Gesicht den Gästen zu. Lange rührte sich niemand. Manche Dinge sind einfach zu viel, und diese Frau in ihrem nackten Schmerz ließ die anderen vor ihr zurückweichen, wie Kinder vor einem gequälten Tier, das auf der Straße stirbt.
Niemand reichte ihr ein Taschentuch.
Niemand blickte ihr in die Augen.
Niemand sagte ein Wort.
Doch dann meldete sich zu meinem Erstaunen Madame Luzeron zu Wort und sagte mit ihrer schneidenden Stimme: »Ach, Sie Ärmste. Ich weiß, wie Sie sich fühlen.«
»Wirklich?« Ihre Augen waren ein Mosaik aus Tränen.
»Ja, ich habe meinen Sohn verloren, wissen Sie.« Sie legte ihr die Hand auf die Schulter und führte sie zum nächsten Sessel. »Sie stehen unter Schock. Trinken Sie einen Schluck Champagner. Mein verstorbener Mann sagte immer, Champagner ist die beste Medizin.«
Nun lächelte sie zaghaft. »Sehr freundlich von Ihnen, Madame –«
»Héloise. Und wie heißen Sie?«
»Michèle.«
Das war also der Name meiner Mutter. Michèle.
Wenigstens kann ich auch weiterhin Vianne heißen, dachte ich und begann auf einmal so heftig zu zittern, dass ich fast zusammenklappte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Nico besorgt.
Ich nickte und versuchte zu lächeln.
»Sie sehen auch so aus, als könnten Sie ein bisschen Medizin vertragen«, sagte er und reichte mir ein Glas Cognac. Er sah so ernst aus – und so deplatziert in dem geschnürten Mantel und mit seiner Perücke à la Heinrich IV . –, dass ich anfing zu weinen. Absurd, ich weiß, und einen Moment lang dachte ich gar nicht mehr an die kleine Szene, die durch Michèles Geschichte unterbrochen worden war.
Aber Thierry hatte sie im Gedächtnis behalten. Er war zwar betrunken, aber doch nicht betrunken genug, um zu vergessen, warum er Roux bis hierher verfolgt hatte. Er war auf der Suche nach Vianne Rocher, und endlich hatte er sie gefunden, auch wenn sie anders aussah, als er sie sich vorgestellt hatte. »Dann bist du also Vianne Rocher.« Er sprach leise, und seine Augen waren wie kleine Nadelstiche in glühender Kohle.
Ich nickte. »Ja, ich war Vianne Rocher. Aber ich bin nicht die Frau, die deine Schecks eingelöst hat –«
Er unterbrach mich. »Das ist mir völlig egal. Mich interessiert nur, dass du mich angelogen hast. Mich. Angelogen.« Empört schüttelte er den Kopf, aber irgendwie hatte
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