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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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aufhalten –
    Wir sind gegenüber von unserem Pralinengeschäft. Wir stehen an der Ecke der Place des Faux-Monnayeurs , da, wo die gepflasterte Straße abzweigt. Hier steht eine Straßenlaterne, sie wirft ein helles Licht auf den Schnee, und unsere Schatten reichen bis zu den Stufen. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Maman auf den Platz hinausschaut. Sie scheint hundert Kilometer weit entfernt zu sein, aber so groß kann die Distanz doch gar nicht sein! Und da sind die anderen: Roux und Rosette und Jean-Loup und Nico, aber ihre Gesichter sind irgendwie auch ganz weit weg, wie etwas, das man durch ein Teleskop betrachtet.
    Die Tür geht auf. Maman kommt heraus.
    Aus der Ferne höre ich Nicos Stimme. Er sagt: »Was geht denn hier ab?«
    Hinter ihnen Stimmengemurmel, das in einem atmosphärischen Rauschen untergeht.
    Der Wind wird stärker. Der Hurakan – und gegen diesen Wind kommt Maman bestimmt nicht an, obwohl ich sehe, dass sie es versuchen will. Sie wirkt ruhig und gelassen. Ja, sie lächelt fast. Und ich frage mich, wie ich oder sonst irgendjemand auf die Idee kommen konnte, dass sie auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Zozie hat.
    Auf Zozies Gesicht erscheint dieses Kannibalenlächeln. »Na, endlich mal ein kleiner Energieblitz?«, faucht sie. »Zu spät, Vianne. Ich habe das Spiel gewonnen.«
    »Du hast überhaupt nichts gewonnen«, erwidert Maman. »Leute wie du gewinnen nie. Du denkst es vielleicht, aber der Sieg ist immer nur eine leere Hülse.«
    Zozie faucht: »Woher willst du das wissen? Das Kind ist mir freiwillig gefolgt.«
    Maman geht gar nicht auf sie ein. »Anouk, komm zu uns.«
    Aber ich bin wie festgefroren unter dem kalten Licht. Ich möchtegehen – aber da ist noch etwas anderes, diese Flüsterstimme, ein eisiger Angelhaken in meinem Herzen, der mich in die andere Richtung zieht.
    Es ist zu spät. Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Der Hurakan gibt nicht auf  –
    »Bitte, Zozie. Ich möchte nach Hause.«
    Nach Hause? Welches Zuhause? Killer haben kein Zuhause, Nanou, Killer reiten auf dem Hurakan  –
    »Aber ich habe niemanden getötet –«
    Ach, tatsächlich?
    Ihr Lachen klingt wie Kreide, die über eine Tafel kratzt.
    Ich schreie: »Lass mich gehen!«
    Wieder lacht sie. Ihre Augen sind wie verglühte Kohle, ihr Mund ist ein Stacheldraht, und ich weiß nicht mehr, wie ich sie je toll finden konnte. Sie riecht nach toten Krabben und nach Benzin. Ihre Hände sind nur Knochen, ihre Haare vermoderter Seetang. Und ihre Stimme ist die Nacht, und jetzt kann ich hören, wie hungrig sie ist, sie will mich verschlingen –
    Tsk-tsk, verschwinde!
    Zozie grinst mitleidig. Die Kette aus Herzen, die sie sich um die Taille geschlungen hat, wippt und schwingt wie das Röckchen eines Cheerleaders.
    Tsk, tsk, verschwinde! Sie wehrt es wieder ab, doch diesmal sehe ich einen kleinen Lichtblitz, der über den Platz hüpft, auf Zozie zu, wie ein Funke von einem großen Feuer.
    Aber auch jetzt grinst Zozie nur. »Zu mehr bist du nicht fähig?«, ruft sie höhnisch. »Häusliche Magie und Zaubersprüche, die jedes Kind lernen kann? Was für eine Verschwendung deiner Fähigkeiten, Vianne! Du könntest doch mit uns auf dem Wind reiten. Aber manche Menschen sind eben zu alt, um sich noch zu verändern. Und manche haben Angst davor, frei zu sein –«
    Und sie macht einen Schritt auf Maman zu, und plötzlich sieht sie wieder vollkommen anders aus. Das ist ein Zaubertrick, klar. Aber sie ist jetzt wunderschön. Die blutigen Herzen sind verschwunden, und sie trägt eigentlich nur einen gewickelten Rock, der aussiehtwie Jade. Dazu jede Menge Goldschmuck. Ihre Haut hat die Farbe von Mokkasahne, ihr Mund ist wie ein aufgeschnittener Granatapfel, und sie lächelt Maman strahlend an, als sie sagt:
    »Warum kommst du nicht mit uns, Vianne? Es ist noch nicht zu spät. Wir drei – niemand könnte uns aufhalten. Wir wären stärker als die Wohlwollenden. Stärker als der Hurakan. Wir wären fantastisch, Vianne. Unwiderstehlich. Wir würden Verführungen und süße Träume verkaufen, nicht nur hier, sondern überall. Wir würden deine Pralinen global vertreiben. Filialen in sämtlichen Teilen der Welt. Alle würden dich lieben, Vianne, du würdest das Leben von Millionen Menschen verändern –«
    Maman wird schwach. Tsk, tsk, verschwinde! Aber sie ist nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache, der Funke verglüht, noch ehe er den Platz zur Hälfte überquert hat. Sie macht einen Schritt auf Zozie

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