Himmlische Wunder
nein –«
»Es tut mir leid, Anouk.«
Schnell gehe ich durch die leere Küche. Teller und Gläser sind säuberlich gestapelt, neben den Resten des Festes. Auf dem Herd köchelt leise ein Topf Schokolade. Der aufsteigende Dampf ist das einzige Lebenszeichen im Raum.
Nimm mich. Genieß mich , flüstert er.
Es ist ein kleiner Zauber, die typische Alltagsmagie, und Anouk hat ihr in den letzten vier Jahren widerstanden, aber trotzdem lohnt es sich, auf Nummer sicher zu gehen, und auf dem Weg zur Hintertür stelle ich die Flamme unter dem Topf aus.
In der einen Hand trage ich meinen Koffer, mit der anderen werfe ich das Zeichen der Mictecacihuatl in die Luft, wie eine Handvoll Spinnweben. Der Tod – und ein Geschenk. Die elementare Verführung. Wesentlich wirksamer als Schokolade.
Und nun drehe ich mich um und lächle ihr zu. Wenn ich draußen bin, wird mich die Dunkelheit verschlucken. Der Nachtwind flirtet schon mit meinem roten Kleid. Die Schuhe im Schnee sind rot wie Blut.
»Nanou«, sage ich. »Wir haben alle eine Wahl. Yanne oder Vianne. Annie oder Anouk. Der Wind der Veränderung oder der Hurakan. Es ist nicht immer einfach, so zu sein wie wir. Wenn du es leicht haben willst, dann solltest du lieber hierbleiben. Aber wenn du auf dem Wind reiten möchtest –«
Kurz scheint sie noch zu zögern, aber ich weiß, dass ich gewonnen habe.
Gewonnen habe ich in dem Moment, als ich deinen Namen angenommen habe, Vianne, und damit auch den Ruf des Wechselnden Windes. Weißt du – ich hatte nie vor, hierzubleiben. Ich wollte auch nie deine Chocolaterie . Ich wollte überhaupt nichts von dem jämmerlichen kleinen Leben, das du für dich geschaffen hast.
Aber Anouk, mit all ihren Begabungen, ist unbezahlbar. So jung und schon so talentiert – und vor allem so leicht zu beeinflussen.Wir können morgen bereits in New York sein, Nanou, oder in London, Moskau, Venedig oder auch im guten alten Mexiko-Stadt. Viele Ort da draußen warten nur darauf, von Vianne Rocher und ihrer Tochter Anouk erobert zu werden. Und wir zwei werden fabelhaft sein, wir werden durch sie hindurchfegen wie der Dezemberwind, meinst du nicht auch?
Anouk schaut mich an, wie verzaubert. Es erscheint ihr alles so logisch, so richtig, dass sie sich fragt, warum sie das bisher gar nicht gemerkt hat. Ein fairer Tausch. Ein Leben für ein Leben.
Und bin ich jetzt nicht deine Mutter? Besser als das Leben und doppelt so viel Spaß? Wozu brauchst du Yanne Charbonneau? Warum brauchst du überhaupt jemanden?
»Aber was ist mit Rosette?«, protestiert sie.
»Rosette hat jetzt eine Familie.«
Sie überlegt. Ja, Rosette hat eine Familie. Sie muss sich nicht entscheiden. Sie hat Yanne, sie hat Roux –
Wieder schluchzt Anouk auf. »Bitte –«
»Komm schon, Nanou. Das ist es doch, was du willst. Magie, Abenteuer, ein Leben auf der Überholspur –«
Sie macht einen Schritt, dann hält sie wieder inne. »Versprichst du, dass du mich nie anlügst?«
»Ich habe dich noch nie belogen, und ich werde dich nie belügen.«
Wieder schweigt sie, und der Duft von Viannes Schokolade zupft an mir, flüstert Nimm mich, genieß mich , mit rauchig klagender, ersterbender Stimme.
Etwas Besseres bringst du nicht zustande, Vianne?
Aber Anouk kann sich immer noch nicht entschließen.
Sie blickt auf mein Armband, auf die silbernen Glücksbringer: Sarg, Schuhe, Maiskolben, Kolibri, Schlange, Totenkopf, Affe, Maus –
Sie runzelt die Stirn, als würde sie versuchen, sich an etwas zu erinnern, was schon fast da ist. In ihren Augen schimmern Tränen, als ihr Blick auf den Kupfertopf fällt, der auf dem Herd langsam abkühlt.
Nimm mich. Genieß mich . Eine letzte traurige Duftwolke schwebt durch die Luft, wie der Geist der Kindheit.
Nimm mich. Genieß mich . Ein aufgeschürftes Knie, eine kleine feuchte Handfläche, die Lebenslinie und die Herzlinie mit Kakaopulver nachgezeichnet.
Nimm mich. Genieß mich . Die Erinnerung daran, wie sie zusammen im Bett liegen, ein Bilderbuch zwischen ihnen, und Anouk lacht fröhlich über etwas, was Vianne gerade gesagt hat –
Wieder mache ich das Zeichen der Mictecacihuatl, der alten Todesherrin, der Verschlingerin der Herzen, ich werfe es Anouk in den Weg, wie schwarzes Feuerwerk. Die Zeit drängt, Madames Geschichte wird bald zu Ende sein, und dann wird man uns beide vermissen.
Anouk ist ganz benommen. Verträumt, wie im Halbschlaf, blickt sie auf den Herd. Durch den Rauchenden Spiegel kann ich den Grund sehen: ein kleines
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