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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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das Kind zuckte nicht einmal zusammen. Nein, sie lächelte nur und ergriff meine Hand.
    »All diese Herzen, die du gesammelt hast«, sagte sie. »Und trotzdem hast du selbst kein Herz. Wolltest du mich deswegen haben? Damit du nicht mehr allein bist?«
    Ich starrte sie nur an, sprachlos vor Wut. Stiehlt der Rattenfänger die Kinder, um ihre Liebe zu gewinnen? Beschließt der große böse Wolf, Rotkäppchen zu verführen, weil er sich nach Gesellschaft sehnt? Ich bin die Verschlingerin der Herzen, du dummes Kind, ich bin die Todesangst, ich bin die böse Hexe, ich bin das grimmigste aller Märchen, und wage es nur ja nicht, mit mir Mitleid zu haben!
    Ich schubste sie weg. Sie wollte nicht gehen. Sie fasste mich wieder an der Hand, und auf einmal, keine Ahnung, warum, bekam ich Angst –
    Man kann es als Warnung bezeichnen, wenn man will. Oder als einen Anfall, ausgelöst durch die ganze Anspannung, durch denChampagner und zu viel Pulque . Aber ich brach plötzlich in kalten Schweiß aus, mir wurde eng in der Brust, ich konnte nur noch stoßweise atmen. Pulque ist ein unberechenbares Getränk, manchen verschafft es eine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit, Visionen, die sehr intensiv sein können, aber man kann auch ins Delirium verfallen oder übereilte Entscheidungen treffen und mehr von sich selbst preisgeben, als für jemanden wie mich gut ist.
    Und nun begriff ich die Wahrheit: In meinem ungeduldigen Wunsch, dieses Kind mitzunehmen, war mir irgendwo ein Fehler unterlaufen. Ich hatte mein wahres Gesicht gezeigt, und diese plötzliche Intimität war verwirrend, unaussprechlich, und zerrte an mir wie ein hungriger Hund.
    »Lass mich los!«
    Anouk lächelte nur.
    Und jetzt überkam mich echte Panik, und ich stieß sie mit aller Kraft von mir. Sie rutschte aus und landete rückwärts im Schnee, aber ich spürte trotzdem noch, wie sie nach mir griff, mit diesem mitleidigen Blick –
    Unter bestimmten Umständen bleibt selbst so erfahrenen Personen wie mir nichts anderes übrig, als abzuhauen. Es gibt ja noch andere Gelegenheiten, sage ich mir. Neue Städte, neue Aufgaben, neue Geschenke. Heute wird bedauerlicherweise niemand mitgenommen.
    Und erst recht nicht werde ich selbst das Opfer sein.
    Ich renne los, blindlings durch den Schnee, ich schlittere über die Pflastersteine, weg, nur weg, und dann verliere ich mich im Wind, der von der Butte her wie schwarzer Rauch über Paris hinwegfegt, unterwegs nach wer weiß wohin –

18

    M ONTAG , 24 . D EZEMBER
    Heiligabend, 23 Uhr 35
    Ich bereitete ein Kännchen Schokolade. Das mache ich immer in schwierigen Momenten, und die befremdliche kleine Szene draußen vor dem Laden hatte nicht nur mich erschüttert. Es war bestimmt das Licht, meinte Nico, diese eigenartige Beleuchtung, wegen des Schnees. Oder zu viel Wein. Oder irgendetwas, was wir gegessen haben.
    Ich ließ ihn in dem Glauben, genau wie alle anderen. Behutsam führte ich die zitternde Anouk in die Wärme und goss ihr eine Tasse Schokolade ein.
    »Vorsicht – heiß, Nanou!«, warnte ich sie.
    Es ist vier Jahre her, dass sie das letzte Mal meine Schokolade getrunken hat. Aber diesmal hatte sie keine Einwände. Ich hatte sie in eine Decke gewickelt, und sie schlief schon halb. Sie konnte uns nicht erzählen, was sie in den paar Minuten da draußen im Schnee gesehen hatte, so wenig wie sie erklären konnte, warum Zozie plötzlich verschwunden war, oder dieses seltsame Gefühl, das ich am Schluss gehabt hatte – das Gefühl, ihre Stimmen von weit weg zu hören –
    Draußen hatte Nico etwas gefunden.
    »Hallo, seht mal, sie hat einen Schuh verloren.« Er klopfte den Schnee von seinen Stiefeln, trat ein und stellte den Schuh mitten auf den Tisch. »Super! Schokolade! Ausgezeichnet!« Er goss sich eine Tasse randvoll.
    Anouk nahm den Schuh. Es war ein Stöckelschuh mit offenen Zehen, überall bestickt mit Glitzerzauber, passend für eine Abenteurerin auf der Flucht.
    Nimm mich , sagt er.
    Nimm mich. Genieß mich .
    Anouk runzelt die Stirn. Dann lässt sie den Schuh auf den Boden fallen. »Wisst ihr denn nicht, dass es Unglück bringt, wenn man einen Schuh auf den Tisch stellt?«
    Ich lächle, aber hinter vorgehaltener Hand.
    »Gleich ist Mitternacht!«, sage ich zu ihr. »Willst du jetzt deine Geschenke auspacken?«
    Doch da schüttelt Roux den Kopf. Ich verstehe gar nichts mehr. »Fast hätte ich’s vergessen«, sagt er. »Es ist zwar schon spät, aber wenn wir uns beeilen, reicht die Zeit

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