Himmlische Wunder
noch.«
»Wofür?«
»Überraschung!«, sagt Roux.
»Besser als die Geschenke?«, fragt Anouk.
Roux grinst. »Das musst du schon selbst entscheiden.«
19
M ONTAG , 24 . D EZEMBER
Heiligabend, Mitternacht
Zum Port de l’Arsenal sind es von der Place de la Bastille zehn Minuten zu Fuß. Wir nahmen die letzte Metro von Pigalle und waren ganz kurz vor Mitternacht da. Die Wolken waren inzwischen so gut wie weg, und an manchen Stellen konnte man den Sternenhimmel sehen, orangerot und golden umrandet. Es roch leicht nach Rauch, und im gespenstischen Abglanz des Schnees sah man, gar nicht so weit weg, die blassen Türme von Notre-Dame.
»Was machen wir hier?«, fragte ich.
Grinsend legte Roux den Finger an die Lippen. Er hatte Rosette auf dem Arm; sie schaute munter in die Gegend und verfolgte alles mit den großen Augen eines Kindes, das längst im Bett sein müsste und die Situation unglaublich genießt. Auch Anouk war wieder hellwach, aber ihr Gesicht war immer noch angespannt, was mich denken ließ, dass das, was sich da auf der Place des Faux-Monnayeurs abgespielt hatte, noch nicht ganz überstanden war. Die meisten Gäste waren in Montmarte geblieben, nur Michèle war mitgekommen. Sie wirkte ein bisschen verschüchtert, als hätte sie Angst, dass jemand sagen könnte, sie habe kein Recht, dabei zu sein. Zwischendurch fasste sie mich immer wieder am Arm, wie zufällig, oder sie strich Rosette über die Haare und schaute dann auf ihre Hände, als dächte sie, dass sie dort irgendetwas entdecken könnte – ein Zeichen, einen Fleck –, was beweisen würde, dass alles Wirklichkeit war.
»Möchten Sie Rosette ein bisschen auf den Arm nehmen?«, fragte ich sie.
Stumm schüttelte sie den Kopf. Sie hatte kein Wort mehr über die Lippen gebracht, seit ich ihr gesagt hatte, wer ich bin. Dreißig Jahre Schmerz und Sehnsucht haben bewirkt, dass ihr Gesicht aussieht wie etwas, was zu oft gefaltet und geknickt wurde. Dass man lächeln kann, scheint sie gar nicht zu wissen, und als sie es jetzt versucht, sieht sie aus wie eine Frau, die ein Kleid anprobiert, bei dem sie von vornherein weiß, dass es ihr nicht steht.
»Die Leute wollen einem immer helfen, auf Kummer und Verlust gefasst zu sein«, murmelte sie. »Aber sie kommen nie auf die Idee, einen auf das Gegenteil vorzubereiten.«
Ich nickte. »Das stimmt. Aber wir schaffen das schon.«
Sie lächelte. Diesmal gelang ihr das Lächeln schon viel besser, und in ihren Augen erschien ein zaghafter Glanz. »Das denke ich auch«, sagte sie und hakte sich bei mir unter. »Ich habe das Gefühl, das liegt in der Familie.«
In dem Moment schoss die erste der Feuerwerksraketen auf, ein Goldregen am anderen Ufer der Seine. Ein Stückchen weiter entfernt folgte die zweite und gleich noch eine dritte. Graziös stieg grüngoldenes Geflimmer über dem Fluss auf, um dann in der Luft zu verglimmen.
»Mitternacht! Fröhliche Weihnachten!«, rief Roux.
Man hörte fast nichts von dem Feuerwerk, weil es zu weit weg war und weil der Schnee alle Geräusche verschluckte, aber es dauerte fast zehn Minuten – glitzernde Spinnweben am Himmel, Raketenblumen, Sternschnuppen und Feuerwirbel in Blau und Silber, in Scharlachrot und Pink, sie riefen und winkten sich zu, von Notre-Dame bis zur Place de la Concorde.
Michèle beobachtete das Spektakel ganz gebannt. Ihr Gesicht war ruhig und schien von noch etwas anderem illuminiert als nur vom Widerschein des Feuerwerks. Rosette machte wie wild ihre Zeichen und juchzte vor Freude, während Anouk mit feierlichem Entzücken zuschaute.
»Das war das tollste Geschenk aller Zeiten«, schwärmte sie.
»Aber das war noch längst nicht alles«, sagte Roux. »Kommt mit!«
Wir gingen den Boulevard de la Bastille entlang zum Port de l’Arsenal, wo Boote in allen Größen liegen, geschützt vor den Turbulenzen des Flusses.
»Sie hat behauptet, du hättest gar kein Boot.« Es war das erste Mal, dass Anouk von Zozie redete, seit der Szene vor dem Le Rocher de Montmartre .
Roux grinste wieder. »Dann schau mal nach.« Und er zeigte über den Pont Morland .
Anouk stellte sich auf die Zehenspitzen, die Augen weit aufgerissen. »Welches ist deines?«, fragte sie ungeduldig.
»Rat mal!«, sagte Roux.
Es gibt sicher grandiosere Boote im Port de l’Arsenal. Der Hafen nimmt Fahrzeuge mit einer Länge von bis zu fünfundzwanzig Metern an, und das Boot hier ist nicht einmal halb so lang. Es ist alt, das kann ich sogar von hier aus sehen, eher auf
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