Hinter blinden Fenstern
im Vorbeigehen mit ihrer Hand die der anderen Frau und humpelte über den Hinterhof und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, hinter der Tormauer. Das tockende Geräusch des Stocks verstummte allmählich.
Von jeglichem Willen beraubt, sank Karin Mora auf die Knie. Sie stützte sich mit den Fäusten auf dem kalten harten Parkplatz ab, legte sich auf die Seite, zog die Beine an den Körper, drückte die Stirn auf ihren Ellenbogen und weinte auf den Asphalt. Und weinte und weinte, und der Zug ihrer Tränen hörte nicht auf.
Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe: Der Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen …
Er feuerte die Bibel, die er extra bestellt hatte, auf den Boden und empfand nichts als Ekel, wenn er an seine Feigheit dachte. Und er dachte dauernd daran. Er dachte, daß er zu feige gewesen war, das Mädchen umzubringen, er war sogar zu feige, mit ihr das zu tun, was er sich tagelang, nächtelang vorgenommen hatte.
Auf und ab schlurfend spuckte Arthur Fallnik in seiner Zelle aus, schlug gegen das Stockbett, in dem er allein schlief, und steigerte sich in einen Schwur hinein.
Nach seiner Freilassung würde er sie ein zweites Mal holen und dann.
Sie würden ihn freilassen müssen, er hatte ihr nichts angetan. Das war ja das Lächerliche. Sie hatte ihn lächerlich gemacht. In seinen eigenen vier Wänden. Das würde sie bereuen. Er würde sie ein zweites Mal in seine Wohnung bringen und dann.
Aber bevor er sie umbrachte, würde sie um Vergebung winseln. Diesmal würde er sich von ihr nicht zum Affen machen lassen. Nie wieder. Heulen würde sie und über den Roden kriechen wie die anderen Frauen, die dachten, sie könnten an ihm herumfummeln wie an einem Puffkunden.
Er bohrte mit dem kleinen Finger in sein Ohr und spuckte wieder aus. Wie lang hatte sich das Ding bei ihm eingenistet? Ein halbes Jahr? Länger. Und er hatte es geduldet. Er war in die Arbeit gegangen, viermal in der Woche, wie gewöhnlich, niemand hatte Verdacht geschöpft. Im Marienstüberl redeten die anderen über ihn, ohne zu wissen, daß sie ihn meinten. Und derweil hockt das Ding bei ihm und macht sich breit und behandelt ihn dreckig.
Am Tag seiner Freilassung, schwor er, würde er auf sie warten. Und dann.
Entscheidend war die Taktik. Reue mußte er zeigen, nicht zuviel, damit er sich im Gerichtssaal nicht vor Selbstverachtung übergeben mußte. Etwas Reue, und dazu brauchte er eine angemessene Stimme. Er mußte gelassener sprechen, nicht gleichgültig, herablassend, weniger direkt als üblich. Üblicherweise sprach er die Dinge direkt aus, das wußten alle, die ihn kannten.
Du mußt dich zügeln, dachte er, denk an das Ding und daran, was passieren wird.
Die Bibel, dachte er. Er würde einige Stellen auswendig lernen und sie bei Gelegenheit einfließen lassen. Unaufdringlich, nicht devot, auf keinen Fall kriecherisch und bigott. Das würde er schaffen.
Er trat gegen die Zellenwand. Und weil er gerade bei Laune war, noch ein zweites und drittes Mal.
Zwei, drei Monate, schätzte er, müßte er Geduld aufbringen, dann würde der Prozeß beginnen. Und das Ding würde gegen ihn aussagen, aber nur, was die Entführung betraf, die war nicht zu leugnen. Und wenn sie ansonsten bei der Wahrheit blieb, dann.
Er hob das kleine schwarze Buch vom Steinboden auf und setzte sich auf das untere Bett. In dem nach Waschpulver riechenden, frisch gewaschenen elastischen Blaumann fühlte Arthur Fallnik sich mit seinem Übergewicht besonders wohl.
Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen, las er, ja, es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten. Das werden sie tun, weil sie weder den Vater noch mich erkannt haben. Ich habe es euch gesagt, damit ihr, wenn deren Stunde kommt, euch an meine Worte erinnert …
Lieber Lindafinder, in der Zeitung habe ich gelesen, daß Sie ein ehemaliger Mönch sind. Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß Sie mich gefunden haben. Einsame Menschen haben einen Blick für andere einsame Menschen. Aber ich weiß gar nicht, ob ich wirklich einsam bin. Oder Sie. Vielleicht sind wir einfach nur am meisten am Leben, wenn wir für uns sind.
Meine Eltern fragen mich immer noch unaufhörlich aus, und was ich auch antworte, sie glauben mir nicht. Weil sie mich nicht verstehen. Das macht nichts. Gibt es Eltern, die ihre Kinder verstehen? Und ist das überhaupt notwendig?
Mit Ihnen würde ich mich
Weitere Kostenlose Bücher