Hinter blinden Fenstern
ihrem Tod aufrechtzuerhalten. Ich habe dich angelogen, und es tut mir leid. Ich habe für meinen Vater gelogen. Und jetzt hat Clarissa Weberknecht unsere Lüge beendet. Aber mein Vater schafft es nicht, offen darüber zu sprechen, obwohl ich überzeugt bin, daß er den ganzen Nachmittag an nichts anderes gedacht hat.«
»Und du?« sagte Ann-Kristin. »Wann hättest du mit mir darüber gesprochen?«
»Später, im Strandkorb. Und dann hätte ich dir auch endlich gesagt, daß Leonhard nicht mein Vater ist. Mein richtiger Vater war ein früher Kunde meiner Mutter, sie kannte ihn lange, sie mochte ihn und vertraute ihm. Sie hat nicht aufgepaßt, oder er. Er lebt nicht mehr. Er hatte kein Geld, er war ein Wegelagerer. Meine Mutter nannte ihn so. Ich war zwei Jahre alt, als Leonhard auftauchte. Nach einer Woche machte er meiner Mutter einen Antrag, er, der Busfahrer, der für ein Reiseunternehmen ständig Urlauber, die nicht viel Geld hatten, nach Italien, Spanien und Griechenland kutschierte. Meine Mutter dachte einen Tag lang nach, dann sagte sie ja.«
Mit einer Kopfbewegung forderte Fischer, der Uneheliche, seine Freundin zum Weitergehen auf.
»Und immer«, sagte er, »immer und immer, wenn sie von ihm sprach, weil er wieder einmal für vier Wochen unterwegs war, ging ihr die Sprache über vor Sehnsucht und Zuneigung. Dann küßte sie mich anders als sonst. Und wenn mein Vater zurückkam, verschwanden sie im schönsten Zimmer des Bordells, in dem mit dem weißen Himmelbett und den Samtvorhängen und dem orientalischen Springbrunnen, und wenn sie wieder herauskamen, hob mein Vater mich auf seine Schultern, und meine Mutter verströmte einen Duft nach Lavendel, den ich noch heute riechen kann. Am Tag, als sie starb und ich in ihrem offenen Cabrio saß und wir zum Baggersee hinausfuhren, sagte sie …«
Mitten im Satz brach er ab und blickte über die Straße.
»Ich würde jetzt gern ein Bier trinken.«
Mit fröstelnder Stimme sagte Ann-Kristin: »Ein Bier wird nicht reichen für das, was du mir alles erzählen mußt.«
»Da hinten gibt’s eine Kneipe, den Miniwirt.«
»Hoffentlich stößt du dir dort nicht den Kopf.« Behutsam strich Ann-Kristin ihm über die Haare.
Dann hielt sie die Hand, mit der Polonius Nikolai Maria Fischer sie über die Straße führte, mit beiden Händen fest, wie ein Mädchen.
Es war dunkel, so konnte sie sein Lächeln nicht sehen.
Als sie den Miniwirt in der Senftlstraße erreichten, dachte er – wie seine Mutter damals im offenen Auto im Sommerlicht –, was für ein Glück er habe, daß ein Mensch seine Nähe bewohnte, an dessen Seite er nie verlorengehen würde, ganz gleich, ob es einen gnädigen Gott gab oder nicht.
Und bevor sie eintraten, sagte er es ihr.
» Well, I got up this morning, saw the rising sun return.
Sooner or later you, too, shall burn. «
BOB DYLAN,»ROLLIN’ AND TUMBLIN’«
Buch
C ornelius Mora, ein kleiner Ladenbesitzer, ist tot. Er hängt gefesselt und blutig an einem Kreuz. Das Kreuz steht im Hinterzimmer eines miesen, kleinen Klubs in der Vorstadt, der für einschlägige Praktiken wohlbekannt ist. Also kein Verbrechen, sondern ein Unfall. Doch Polonius Fischer gibt sich nicht zufrieden mit einer vorschnellen Antwort. Was hat den unauffälligen kleinen Mann in dieses Milieu getrieben? Was hat Clarissa, die Besitzerin des Klubs, zu verbergen? Und was bedeuten die rätselhaften letzten Worte des Opfers: »Halt den Zug auf!«
Die Fragen verlaufen im Sande. Die Mordkommission hat keine Zeit für Fälle, in denen es keinen Ermordeten gibt und keinen Mörder. Und nur langsam beginnt Polonius Fischer zu begreifen, daß seine Ahnung ihn nicht getrogen hat; daß ein Zusammenhang besteht zwischen Ereignissen, die so fern voneinander zu liegen scheinen. Und als ein junges Mädchen entführt wird, ist er sicher: Hinter der grauen Fassade der kleinbürgerlichen Häuserblocks spielt bereits seit langer Zeit ein grausames Drama, das niemand bemerkt hat. Wieder lotet Friedrich Ani die schmalen Grenzen aus, die den durchschnittlichen Alltag trennen von einem ständig drohenden Schrecken.
Autor
F riedrich Ani, 1959 geboren, lebt in München. Er arbeitete als Reporter und Hörfunkautor. Für vier seiner Romane um den Vermißtenfahnder Tabor Süden erhielt er den Deutschen Krimipreis. Bei Zsolnay erschien 2006 der erste Polonius-Fischer-Krimi Idylle der Hyänen, für den er mit dem Tukan-Preis der Stadt München für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet
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