Hinter blinden Fenstern
ihren Körper als »maßgeschneidert«, besonders ihren Hintern, mit dem, wie ihre Kolleginnen im Club behaupteten, neunzig Prozent aller Frauen die grausamsten Diäten und Massagetechniken auf sich nehmen würden.
Über ein Wort wie Übergewicht hatte Clarissa sich schon mit Dinah amüsiert. Das war zu einer Zeit, als nicht einmal Models Kleidergröße null trugen, worüber sich die beiden jungen Bardamen in der Ledererstraße vermutlich totgelacht hätten.
Manche Gäste hatten sie für Schwestern gehalten.
»Wie alt seid ihr?«
»Ich bin vierundzwanzig«, sagte Clarissa.
»Ich neunzehn«, sagte Dinah.
»Glaub ich nicht.«
»Willst du’s nachprüfen?«
»Wie denn?«
»Ich bin noch Jungfrau.«
Irgendwann hatte Clarissa aufgehört zu zählen, wie oft ihre Freundin diesen Satz mit unschuldigster Miene geflüstert hatte und anschließend mit dem Gast im Separee verschwunden war, wo sie sich, wie Clarissa wußte, auf sanftmütigste Art für ihre kleine Lüge entschuldigte.
Heute hieß die einzig noch verbliebene Bar in der Ledererstraße »Madame Cabaret«, sie befand sich im selben Haus wie damals das »Lucy«. Schräg gegenüber, anstelle des Hotels, hatte Trude Severin ihre »Lederstubn« betrieben, ein bayerisches Lokal mit Oben-ohne-Bedienung, einerseits benannt nach der Ledererstraße, hauptsächlich aber nach Trudes Vorliebe für martialische Kleidung. Eigentlich hatte in ihrem Laden nichts so richtig zusammengepaßt und die meisten Gäste waren auch vollkommen ausgelastet mit dem Anblick der Brüste vor ihrem Gesicht und hatten keine Kraft mehr für Phantasien anderer Art. Aber wenn Clarissa und Dinah wichtige Dinge besprechen mußten, für die ihr Zimmer im dritten Stock zu eng und das »Lucy« zu hellhörig war, vertrauten sie sich Trude an, egal, ob es um Männer, seelische oder körperliche Beschwerden, Ängste und Depressionen oder sensationelle Zukunftsvisionen ging. Trude besaß die Gabe des heilenden Zuhörens. Wenn sie sich Zeit nahm, empfanden die Besucher ihre Nähe wie eine Obhut, die sie mit schönerem Blick und gereinigtem Herzen wieder verlassen würden. Manchmal saßen Clarissa und Dinah zwei oder drei Mal in der Woche bei ihr und tranken spanischen Kräuterschnaps, und wenn sie gegen drei Uhr morgens noch in der »Baby’s Bar« auf einen Absacker einkehrten, wunderten sich ihre Kolleginnen dort über ihre beschwingte Stimmung zu so später Stunde.
Als das »Lucy« den Besitzer wechselte und Clarissas und Dinahs Wege sich trennten, ohne daß sie den Kontakt verloren und ihren gemeinsamen Plan aufgaben, führte Trude ihre ersten Kriege mit dem städtischen Ordnungsamt, der Polizei, der Ausländerbehörde und den Nachbarn. Nach eineinhalb Jahren dumpfer Auseinandersetzungen, von denen die Gegenseite einige über die Presse lancierte, beschloß Trude, daß sie mit Anfang sechzig für die fehlgeleiteten Testosteronschübe bestimmter Männer nicht mehr verantwortlich war. Sie sperrte die Lederstubn zu, gab in den fünf Tageszeitungen eine Anzeige auf, in der sie sich – wie sie formulierte – »bei namhaften Münchner Männern aus Politik und Wirtschaft« für die jahrelange Treue bedankte, und zog nach Pasing, wo sie im Blumengeschäft ihrer Schwester arbeitete, nicht ohne in ihrer Wohnung gelegentlich die Lederkleidung hervorzukramen und Besucher zu empfangen. Unter ihnen waren auch ehemals namhafte Münchner.
Was Clarissa bis heute nicht verstanden hatte, war, wieso Trude trotz mehrerer Anrufe und Einladungskarten nicht zur Eröffnung des Club Dinah und nicht einmal auf der Beerdigung von Dinah erschienen war. Immer war Trudes Schwester ans Telefon gegangen und hatte erklärt, Trude läge krank und unansprechbar im Bett oder sei verreist.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus betrachtete Clarissa die Fensterfront des Hotels. Sie fand, es sah einladend und abweisend zugleich aus, genau wie das Café, vor dem sie stand. Italienische Popmusik erklang aus den Lautsprechern. Es kam Clarissa so vor, als würden Kellner wie Gäste mit aller Macht südländische Lässigkeit simulieren oder das, was sie dafür hielten.
In ihren fast dreißig Jahren im Nachtgeschäft hatte Clarissa Alltagsschauspieler zur Genüge kennengelernt, Männer, die andere Männer kopierten, Frauen, die andere Frauen kopierten, besessen von der Vorstellung, sie hätten nun eine eigene Identität. Bis sie stolperten oder die Sonnenbrille ihnen um Mitternacht vom Kopf rutschte und ins Cocktailglas fiel und sie
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