Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
Die Frage nach Jesu Herkunft
als Frage nach Sein und Sendung
M itten im Verhör Jesu stellt Pilatus unerwartet die Frage an den Angeklagten: „Woher bist du?“ Die Ankläger hatten ihren Ruf nach dem Todesurteil für Jesus dramatisiert, indem sie erklärten, dieser Jesus habe sich zum Sohn Gottes gemacht – ein Verbrechen, auf das im Gesetz die Todesstrafe stand. Der aufgeklärte römische Richter, der seine Skepsis schon in der Frage nach der Wahrheit ausgesprochen hatte (vgl. Joh 18,38), hätte diesen Anspruch des Angeklagten als lächerlich empfinden können. Dennoch erschrak er. Der Angeklagte hatte vorher gesagt, er sei ein König, aber sein Reich sei „nicht von hier“ (Joh 18,36). Und dann hatte er ein geheimnisvolles Woher und Wozu angedeutet, als er sagte: „Dazu bin ich geboren und dazu in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen“ (Joh 18,37).
Dies alles musste dem römischen Richter als Schwärmerei erscheinen. Und dennoch konnte er sich dem geheimnisvollen Eindruck dieses Mannes nicht entziehen, der anders war als die ihm bekannten Kämpfer gegen die römische Herrschaft und für die Wiedererrichtung des Königreiches Israel. Der römische Richter fragt nach Jesu Woher, um zu verstehen, wer er eigentlich ist und was er will.
Die Frage nach dem Woher Jesu als Frage nach seiner inneren Herkunft und so nach seinem wahren Wesen taucht auch an anderen entscheidenden Stellen des Johannes-Evangeliums auf, und sie spielt ebenso in den synoptischen Evangelien eine Rolle. Bei Johannes wie bei denSynoptikern steht sie unter einem eigentümlichen Paradox. Auf der einen Seite spricht gegen Jesus und seinen Sendungsanspruch, dass man genau Bescheid weiß über seine Herkunft: Er kommt gar nicht vom Himmel, vom „Vater“, von „oben“, wie er sagt (Joh 8,23). Nein: „Wir wissen doch, wer sein Vater ist und wer seine Mutter: Wie kann er jetzt behaupten: ‚Ich bin vom Himmel herabgestiegen‘?“ (Joh 6,42).
Die Synoptiker berichten von einem ganz ähnlichen Disput in der Synagoge zu Nazareth, dem Heimatort Jesu. Jesus hatte die Worte der Heiligen Schrift nicht in der gewohnten Weise ausgelegt, sondern mit einer die Grenzen jeder Auslegung übersteigenden Vollmacht auf sich und seine Sendung bezogen (Lk 4,21). Die Hörer – durchaus begreiflicherweise – erschrecken über diesen Umgang mit der Schrift, über den Anspruch, selbst der innere Bezugspunkt und der Auslegungsschlüssel der heiligen Worte zu sein. Das Erschrecken wird zum Widerspruch: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Und sind nicht seine Schwestern bei uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm“ (Mk 6,3).
Man weiß doch genau, wer Jesus ist und woher er kommt – einer unter anderen. Er ist einer wie wir. Sein Anspruch kann nur Anmaßung sein. Dazu kommt, dass Nazareth kein Ort war, über dem eine solche Verheißung stand. Johannes berichtet darüber, wie Philippus dem Nathanael sagt: „Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazareth, den Sohn Josefs.“ Die Antwort des Nathanael ist bekannt: „Kann von Nazareth etwas Gutes kommen?“ (Joh 1,45 f). Die Gewöhnlichkeit Jesu, des Arbeitersaus der Provinz, scheint kein Geheimnis zu bergen. Seine Herkunft weist ihn als einen wie alle anderen aus.
Aber es gibt auch das umgekehrte Argument gegen die Autorität Jesu, und zwar im Disput mit dem geheilten Blindgeborenen, dem sehend Gewordenen: „Wir wissen, dass Gott zu Mose gesprochen hat. Von dem (= Jesus) hingegen wissen wir nicht, woher er kommt“ (Joh 9,29).
Etwas durchaus Ähnliches hatten auch die Nazarethaner nach der Synagogenpredigt gesagt, ehe sie Jesus als den Bekannten und ihnen Gleichen abgetan hatten: „Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist? Und was sind das für Krafttaten, die durch ihn geschehen?“ (Mk 6,2). Auch hier ist die Frage: „woher?“ – auch wenn sie danach durch den Verweis auf seine Verwandtschaft abgetan wird.
Das Woher Jesu ist zugleich bekannt und unbekannt, scheinbar leicht zu beantworten und damit doch nicht ausgeschöpft. In Caesarea Philippi wird Jesus seine Jünger fragen: „Für wen halten mich die Leute? … Für wen haltet ihr mich?“ (Mk 8,27 ff). – Wer ist Jesus? Woher kommt er? Die beiden Fragen gehören untrennbar zusammen.
In den vier Evangelien geht es darum, diese Fragen zu beantworten. Sie sind
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