Hinter der Tür
in einem psychiatrischen Institut gewesen ist – als Sechsjährige, um Himmels willen!«
»Sie war fast zwölf, als man sie aus der Mead-Klinik entließ«, sagte Tedesco nachdenklich. »Das war damals ihr halbes Leben. Und dann ihre Mutter. Die medizinischen Unterlagen sind da ziemlich unpräzise, aber sie war offenbar schwermütig; deshalb erhängte sie sich. Solche Dinge können sich in einer Familie weitervererben, Steve, wußtest du das nicht? Himmel, laß dich doch nicht von schönen braunen Augen narren, nur weil sie keinen stieren Blick haben. Was immer du glauben möchtest – Gail Gunnerson ist ein Fall für die Psychiater.«
3
N ächtliche Gedanken:
Das unvollendete Stilleben in der verglasten Veranda, die ihre Mutter Wintergarten genannt hatte. Die Vermischung von Äpfeln und Orangen auf ihrer Palette. Mrs. Bellinger, die mütterliche Kritikerin, die das Bild überschwenglich lobte. Das Obst sieht so echt aus, daß man ’s essen möchte, mein Liebling. Aber nicht gut genug zum Rahmen, verriet Gail erschöpft ihrem Kissen. Klopfte es zurecht, wendete es auf die kühle Seite.
Vanner. Wann hatte sie morgen den Termin? Drei oder vier Uhr? Glatt vergessen. Welche Bedeutung hatte das? Natürlich innerer Widerstand. Sollte sie davon sprechen? Gail bewegte die nackten Beine über das glatte Laken, deren angenehme Oberfläche ihr plötzlich zu Bewußtsein kam. Sie dachte an die Worte ärztlicher Benimm und fragte sich, ob sie etwas Erotisches hatten. Vanner war ein attraktiver Mann. Der Bart hatte sie zuerst abgestoßen, doch jetzt überlegte sie, wie er sich wohl anfühlte. Sie beschloß diese Gedanken auf der Couch des Analytikers nicht zur Sprache zu bringen. Sie war nicht zur Transferenz bereit – noch nicht.
Steve Tyner.
Sie verdrängte sein Bild, indem sie die Augen in das Kissen drückte, doch schon fühlte sich das Baumwollgewebe wieder warm an. Oder war das ihre gerötete Haut? Entrüstung – oder etwas anderes? Die Richtung ihrer Gedanken war ihr plötzlich zuwider. Eine neue Richtung, bitte, murmelte Gail.
Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Sollte sie ein Seconal nehmen? Phenobarb? Nembutal? Freie Wahl. Der nette Mr. Todd, der willige Apotheker. Vergessen, von freundlichen alten Herren hilfsbereit zur Verfügung gestellt. Und Dr. Yost. Was hatte er ihr für die Nerven empfohlen? Einen Wechsel der Umgebung. Flucht vor dem Vertrauten. Ein Rückzug vor dem Schrecklichen. Die Ärzte in der Mead-Klinik waren anderer Ansicht gewesen. Es gebe keine Flucht, sagten sie. Dies war Gails Zuhause, und sie müßte es eigentlich wieder anheimelnd gestalten, müßte es zu einem Ort des Friedens und der offenen Tür werden lassen, nicht der Angst.
Sie öffnete die Augen und ließ ihren Blick durch das Schlafzimmer wandern, zum Fenster, zum massigen Schrank, zur Tür. Sie empfand nichts. Die Dunkelheit ihres Zimmers, gedämpft durch den Schimmer der Nachtleuchte, war tröstend und nicht furchterregend. Sie hatte Mühe, Vanner begreiflich zu machen, warum sie keine Angst vor der Dunkelheit hatte. Sie fürchtete eher…
Ja, was?
Sie blickte auf das Leuchtzifferblatt der Uhr. Viertel nach zwei. Sie dachte an das Buch, das sie um Mitternacht angefangen und um ein Uhr zur Seite gelegt hatte, ohne die Handlung zu verstehen. Sie tastete danach, hielt aber inne, als sie es hörte, das Rumsen.
Es war ein eindeutiger Laut, als habe sich etwas Rundes und Weiches direkt auf das Gunnerson-Haus gesetzt. Ein ausgebrannter Meteor, zu einem kalten Tonballen verglüht, der auf das Dach fiel.
Wieder hörte sie den Laut und wußte, daß er vom Dachboden kam.
Gail hatte schon öfter dort Geräusche gehört und hatte sich jedesmal von einer anderen Erklärung überzeugen lassen. Das Dachfenster war nicht intakt. Alte Balken und Dielen ächzten und knackten. Die Schwerkraft richtete allerlei Unheil an; aufgestapelte Kisten fielen von allein um. Verschiedene Kammerjäger hatten vor Termiten gewarnt. Und dann die Ratten oder Katzen oder Fledermäuse, die heimlichen Dachbodenbewohner so vieler anderer Häuser von der Größe und Stattlichkeit des Gunnerson-Anwesens.
Doch jedesmal führte das Rumsen über ihrem Kopf dazu, daß sie im Bett hochfuhr und nach der Haushälterin rief. Mrs. Bellinger hatte zunächst darauf reagiert, indem sie die Polizei anrief (ihre erste Begegnung mit dem säuerlichen Gesicht Lieutenant Baldridges). Dann hatte sie es gewagt, auf den Boden zu gehen, und konnte Gail die persönliche
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