Hinter Geschlossenen Lidern
mitbekam, obwohl wir uns so nah waren? Ich wusste nur, er mochte es, wenn sie blond waren, blaue Augen und lange Beine hatten – voll das Klischee.
Deshalb überraschte mich sein Statement und ich sah ihn plötzlich in einem anderen Licht. Jetzt wurde mir vieles klar. Es war anscheinend gar nicht so, dass er allein bleiben wollte, er wartete nur auf die Richtige. Seltsamerweise versetzte mir das einen Stich. Für so romantisch hatte ich ihn gar nicht gehalten. Irgendwie wurmte mich der Gedanke, dass er so viel mehr Charakterstärke besaß als ich.
“Du bist nur neidisch, weil ich eine Beziehung habe und du nicht. Dani und ich haben ein paar Probleme. Ich habe zu wenig Zeit für sie, das ist alles.”, verteidigte ich mich lahm. Er sah mich nur an und ich wurde wütend. Er glaubte mir nicht.
“Ich kann mich ja gar nicht richtig um sie kümmern. Irgendwann hat man nicht mehr viel gemeinsam und lebt nebeneinander her.”
Clive legte den Kopf schief. Er sah verdammt gut aus, wenn er dieses ‘Na komm schon, mir kannst du nichts vormachen-Gesicht’ machte.
Selten sah man ihm seine schottische Abstammung so sehr an wie hier in dieser Launch-Atmosphäre. Wie ein Bergmassiv saß er da und streckte seine langen Beine von sich. Ihm passte der Clubsessel, in dem ich hilflos versank, auch wenn er viel zu niedrig war für ihn. Wir waren mit den Klienten essen gewesen und er trug immer noch seinen dunklen Abendanzug. Mit lässig geöffnetem Binder und dem dunklen Bartschatten, der sich nach den paar Stunden schon wieder zeigte, sah er eher aus wie ein Boxer nach einem Sponsorenempfang als der Betriebswissenschaftler, der er war. Nachdenklich blickte er in sein Glas und ließ die goldene Flüssigkeit darin kreisen.
“Liegt es immer noch an der alten Sache mit Adam? Du hast dich damals ganz schön verändert.”
“Bist du irre? Was soll das?”, fuhr ich auf.
“Ahh, da bin ich wohl sofort auf Öl gestoßen, was?”
“Hab nur nicht erwartet, dass du heute schräg genug drauf bist, alte Wunden aufzureißen.”, log ich. “Was soll mein toter Bruder mit meinen Beziehungsproblemen zu tun haben?”
“Bindungsproblemen.”, korrigierte er mich. “Also für mich ist das klar. Deine Mutter ist bei deiner Geburt gestorben, dein Vater war nie da – du hattest nur deinen älteren Bruder, der sich um dich kümmerte. Du hast ihn abgöttisch geliebt und dann ist er einfach gegangen.”
“Er ist nicht gegangen, er ist tot, verdammt noch mal.”, schnauzte ich ihn an, dass die Typen am Nachbartisch sich erschrocken nach uns umsahen. Ich lehnte mich zu ihm vor und zischte leise:
“Könnten wir jetzt das Thema wechseln?”
“Es sind schon mehr Leute als du wütend auf den Menschen gewesen, der sie durch seinen Tod im Stich gelassen hat.”
“Gehst du jetzt unter die Psychologen, oder was?”
“Oder was, ja! Ich habe miterlebt, wie sehr du gelitten hast, schon vergessen? Da muss man kein Experte sein, um zu sehen ... um nie wieder diesen Schmerz zu fühlen, lässt du dich auf tiefere Gefühle gar nicht erst ein.“
„Oh Gott ... das ist über zehn Jahre her!“ Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. “Müssen wir jetzt darüber reden?”
“Heute ist so gut wie jeder andere Tag. Sieh endlich nach vorne! Irgendwann musst du jemandem vertrauen. Also warum nicht jetzt damit anfangen, bevor es zu spät ist und du feststellst, dass dein Leben vorbei ist?”
“Da tönt der Richtige!”
“Ich weiß wenigstens, woran es bei mir liegt.”
“Ach ja?”, höhnte ich angriffslustig. Er hatte in meinen Wunden herumgestochert, jetzt wollte ich ihm wehtun. “Kunststück, ist ja kein Geheimnis.”, sagte ich.
Clive sah aus, als hätte ich ihm einen Truthahn mit zwei Köpfen serviert. “Du weißt es?”
“Na klar, deine maßlose Egozentrik, lässt keinen Platz an deiner Seite – für niemanden.”
Bei meinen Worten wurde Clive plötzlich ganz grau im Gesicht. “So siehst du das also?”
In dem Augenblick brachte der Kellner unseren Bourbon Nummer vier. Clive nahm sein Glas und stürzte den Inhalt in einem Zug herunter. Ich dagegen empfand einen plötzlichen Widerwillen und schob meines beiseite. Clives beängstigende Reaktion auf meine Bemerkung saß mir gründlich quer. Die Lust an der Revenge war mir vergangen. Ich hätte ihm so etwas nicht vorwerfen sollen, denn ich wusste es ja besser. Er war immer für mich da, wenn ich ihn brauchte.
“Lass uns lieber nach oben gehen. Ich bin müde.”, sagte ich missmutig und beschloss, heute Nacht
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