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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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nachzuforschen, was aus uns geworden ist. Und falls ja, was sie ihm erzählt haben«, sagte Wulfric, als sie am nächsten Morgen mit Simon zusammen die morsche Treppe zum Wehrgang hinaufstiegen. »So oder so: Er muss denken, wir sind tot oder wir fristen hier ein jämmerliches Dasein. Hart für einen Vater, verstehst du.«
    Simon nickte beklommen.
    »Pass auf, die dritte Stufe von oben macht’s nicht mehr lange«, warnte Godric. »Wir müssen zusehen, wo wir ein bisschen Holz finden, um sie auszubessern.«
    »Haben wir Werkzeug?«, fragte Simon.
    »Ah!«, rief Wulfric.
    »Was?«, fragte Simon verständnislos.
    »Du hast ›wir‹ gesagt«, erklärte Godric. »Gestern war es noch ›ihr‹.«
    »Oh. Tut mir leid«, murmelte der normannische Knabe verlegen.
    »Ist schon in Ordnung«, versicherte Godric. »Man braucht ein Weilchen, ehe man glauben kann, dass man wirklich hier gelandet ist. Denn verdient hat das keiner, weißt du.«
    Simon blickte über die Brustwehr, die den gesamten Palisadenzaun umlief. Sie waren auf der Ostseite der Burg hinaufgestiegen, und Simon stellte fest, dass die Insel größer war, als er angenommen hatte. Etwa eine Meile erstreckte sich das flache, bewaldete Land. Dahinter lag die See. Von Horizont zu Horizont. Heute war sie stahlblau, denn das Wetter hatte sich gebessert. Der Himmel war klar und leuchtete in einem verwaschenen Blau. Doch der unablässige Wind war so kalt, dass Simon nach kurzer Zeit glaubte, seine Nase werde abfrieren.
    Er wandte den Blick vom Meer ab, denn das Glitzern der Sonne auf dem Wasser war gefährlich für ihn. »Im Wald da unten muss es nur so vor Wild wimmeln«, bemerkte er.
    Wulfric seufzte tief. »Ja, aber all die Rehe und Wildschweine könnten genauso gut in Irland sein, soweit es uns betrifft. Aus dieser Burg gibt es kein Entkommen, glaub mir. Losian hat alles versucht. Aber – und das beantwortet auch deine Frage – wir haben keine Schaufeln, um die Palisaden zu untertunneln, keine Äxte, um sie zu fällen. Wir haben ja nicht mal ein Messer, womit ein Mann sich mal den Bart stutzen könnte.«
    Simon war bereits aufgefallen, dass alle Haar und Bart lang trugen. Jetzt verstand er auch, warum. »Die Brüder müssen ja große Angst vor uns haben«, knurrte er.
    »Vielleicht«, stimmte Godric zu. »Vielleicht wollen sie auch, dass wir wie Tiere leben, um dann sagen zu können: ›Da, schaut sie euch an, sie sind wirklich kein Umgang für anständige Christenmenschen‹. Ich hab keine Ahnung.«
    Sie setzten ihren langsamen Rundgang fort. Auf der Westseite beugte Simon sich über die gefährlichen Spitzen der Holzpfähle und schaute nach unten zur Anlegestelle. »Was ist mit Abseilen?«, fragte er.
    »Dafür braucht man ein Seil, wie an dem Wort unschwer zu erkennen ist«, erklärte Godric.
    »Ihr wollt mir im Ernst erzählen, auf dieser ganzen Burg gibt es kein Seil?«
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie nackt und leer die Aussätzigen diese Anlage hinterlassen haben. Das sind genauso arme Schweine wie wir, die nichts haben und darum alles gebrauchen können.«
    »Trotzdem stimmt es nicht, dass wir gar kein Seil hätten«, schränkte sein Bruder ein. »Losian sammelt jeden Fetzen, den er finden kann, um irgendwann ein neues, starkes Seil daraus zu drehen. Aber bisher hat er nicht mal genug, um einen Kerl damit aufzuknüpfen.«
    »Vielleicht besser so«, warf Godric ein.
    »Wieso?«, fragte Simon verständnislos.
    »Tja, weißt du, manchmal kommt die Schwermut über Losian. Dann lassen wir ihn nicht hier rauf. Vielleicht ist das ja schrecklich selbstsüchtig von uns, denn wenigstens der eine Ausweg sollte jedem offenstehen. Aber wir wüssten einfach nicht, was wir ohne ihn anfangen sollten.«
    Losian ließ eine ganze Woche verstreichen, ehe er den Jungen mit auf den Burghügel hinaufnahm. Er hätte es lieber noch ein bisschen länger hinausgezögert, aber er wusste, das war zu gefährlich. Simon befinde sich in bedenklicher Gemütsverfassung, hatte King Edmund ihm erklärt. Tun wir das nicht alle?, hatte Losian entgegnet, aber natürlich wusste er genau, was Edmund meinte: Der junge Normanne war jetzt lange genug hier, um allmählich zu begreifen, wie hoffnungslos und trist und entbehrungsreich der Rest seines Lebens tatsächlich sein würde, aber noch nicht lange genug, um sich an dieses eigentlich unerträgliche Dasein zu gewöhnen. Darum balancierte er wie ein Gaukler mit ausgestreckten Armen an der ungesicherten Kante der Brustwehr entlang, lief mit

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