Hirngespenster (German Edition)
durchhielt. Herr Reimer hatte auch nichts vom Kuchen angerührt, es war ihr vorgekommen, als starrte er Johannes verzweifelt an, der eine kleine Rede hielt. Und plötzlich war er gegangen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Zurück blieb nur sein Schirm, mit dem Emblem seiner Versicherung.
Anna erhob sich von ihrem Platz am Fenster und begab sich zur Garderobe. Ihre Eltern hatten das erste Jahr nach Silvies Tod ihren Schmerz ertränkt, indem sie Luna und die Kleinen versorgten, tagein, tagaus Anna in der Klinik besuchten, sie bei ihrem Entzug begleiteten und bei all dem zusehends gealtert waren. Doch auch die beiden hatten es irgendwann geschafft, Silvies Tod zu akzeptieren. So machte es jedenfalls den Eindruck, über Gefühle redete man eben nicht so gerne. Wenigstens gelang es ihr bei ihrer Therapeutin und bei Robert.
Anna nahm ihre Jacke vom Haken und griff nach ihrem Schlüssel. Sie wollte Emma und Clara auf ihrem Schulweg entgegengehen; Luna ging inzwischen auf eine weiterführende Schule, in der sie gut zurechtkam. Legasthenie war inzwischen kein Makel mehr, so wie bei ihr früher. Genau genommen kam Luna ausgesprochen gut zurecht, seitdem Anna nicht mehr nach den Hausaufgaben sah.
Heute gab es Bauernomelett mit Salat, es war alles vorbereitet. An den Tagen, an denen sie für Sabina arbeitete, besuchten Emma und Clara einen Hort, und Luna ging zu Christine Brückner. Sie selbst aß an diesen Tagen mit ihren Neffen und der kleinen Lea, die jedes Mal bei ihrer Ankunft auf sie zustürmte, wie es nicht einmal ihre eigenen Kinder taten. Manchmal kamen ihre Eltern dazu und gingen nach dem Essen mit den Kindern spazieren. Lea nahmen sie inzwischen auch mit auf ihren Ausflügen mit Nils und Ole – das Kind konnte am allerwenigsten etwas dafür, was passiert war. Sie war so eine süße Kleine.
Anna hatte ihren Eltern das schlechte Gewissen Silvie gegenüber glücklicherweise ausreden können. Silvie hätte ganz bestimmt nichts dagegengehabt.
Anna griff nach ihrem Schlüsselbund und zog die Haustür hinter sich zu. Während sie den Kindern entgegenlief, dachte sie weiter an Lea, der sie in einem schwachen Moment gebeichtet hatte, was sie getan hatte. Wusste der Teufel, was sie geritten hatte, einem Kind solche Dinge einzuflüstern. Als Sabina mit Lars im Kindbett gelegen hatte, hatte sie die Kleine zusammen mit Nils und Ole zu sich geholt und ein paar Tage betreut. Lea war ihr nicht von der Seite gewichen und hatte darauf bestanden, bei ihr im Bett schlafen zu dürfen – Robert war aufs Sofa ausgewichen. »Gegen die Kleine kann ich nichts ausrichten«, hatte er geschmunzelt.
Und nachdem das Mädchen am zweiten Abend erschöpft vom Spiel mit den großen Cousinen mit ihr ins Bett gekrochen und schon fast eingeschlafen war, hatte sie in die kleinen warmen Ohren geflüstert: »Du weißt gar nicht, mit wem du es zu tun hast. Ich habe etwas Furchtbares getan.« Ein bisschen geweint hatte sie dabei, aber nur kurz.
Die Kleine hatte sie plötzlich mit ihren großen braunen Augen angesehen und etwas erwidert, von dem sie nie gedacht hätte, dass es schon im Wortschatz einer Dreijährigen vorkam: »Nee«, hatte sie geflüstert und Annas Lider mit den kleinen zarten Fingern geschlossen. »Hirngespenster war'n das.«
Lea war ein besonderes Kind, das hatte sie von Anfang an gespürt.
Ich werde nicht mehr lange in der Lage sein, meine Erinnerungen zu halten. Mehr und mehr erscheinen sie mir wie bloße Hirngespinste. Mein neues Leben hält mich in Atem, es herrscht kein Stillstand; schon gar nicht, seitdem mein kleiner Bruder Lars auf der Welt ist. Meine Güte, dieses Geschrei von ihm!
Nach wie vor kann ich nur am Abend in aller Stille einen klaren Gedanken fassen. In diesen Momenten fällt mir dann ein, dass ich früher mal ein anderes Leben hatte, in dem ich selbst eine Mama war. Wie Sabina, die jetzt meine Mama ist. Manchmal darf ich sogar bei ihr einschlafen und mich ganz eng an sie ankuscheln – in ihrem Arm singt sie mir so lange etwas vor, bis mir die Augen zufallen. Johannes legt sich manchmal dazu, nachdem er die anderen ins Bett gebracht hat, und bettet seine starken Arme um uns.
Ich ahne, was geschehen wird.
Ach, was soll’s, ich bin bereit dafür.
Besonders jetzt, wo ich in den Kindergarten komme!
ENDE
Danksagung
Zuallererst danke ich meinem Mann und meinen Söhnen, die meinen oft geistesabwesenden Blick und mein Gelächter aus dem stillen Kämmerlein hingenommen haben, ohne allzu viele Fragen zu
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