Ghostbound (German Edition)
1
Konnte sie bitte jemand daran erinnern, was sie hier tat?
Seit einer kleinen Ewigkeit stand Elizabeth mit gesenktem Kopf vor der Eingangstür eines viktorianischen Reihenhauses in Chelsea und rang mit ihrem Gewissen.
Die Eltern eines kürzlich getöteten Teenagers zu interviewen, war in ihren Augen ein klarer Verstoß gegen die Berufsethik. Noch gestern hatte sie sich geschworen, niemals, unter keinen Umständen, so tief zu sinken.
Und dennoch war ein solches Interview der Grund, weshalb sie an diesem Spätsommerabend hier stand und mit sich haderte. Ihr Chef, der für seine spektakulären Wutausbrüche gefürchtete Chefredakteur des London Star, hatte ihr heute Morgen die Teenager-Morde nur unter der Voraussetzung übertragen, dass sie ihm, wie er es ausdrückte, exklusive und emotionale Background-Storys lieferte. Übersetzt hieß das: rücksichtsloses Eindringen in die Privatsphäre der Angehörigen und Freunde, um so viele pikante Details über die Opfer und deren Umfeld in Erfahrung zu bringen, wie möglich.
Doch andererseits arbeitete Elizabeth schon fast ein Jahr für den Star, und wenn sie nicht ewig über Hundeshows, Friseurwettbewerbe und Schülerlotsenstreiks schreiben wollte, musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Im Ausgleich zu dieser Drecksarbeit durfte sie nämlich auch über die polizeilichen Ermittlungen zu den Teenager-Morden berichten. Und das war immerhin ein Anfang. Eine Chance. Wenn auch eine, die ihr das Gefühl gab, ihre Seele zu verkaufen.
Sie atmete tief durch, gab sich einen Ruck und klingelte.
Beinahe sofort wurde die rote Tür einen Spalt weit geöffnet, und das blasse, von Tränen verquollene Gesicht einer etwa vierzigjährigen Frau sah ihr entgegen. Unter normalen Umständen war Mrs Carmichael sicherlich als sehr gepflegt, ja, sogar hübsch zu bezeichnen. Aber es waren keine normalen Umstände. Ihr sechzehnjähriger Sohn Ian war gestern von Unbekannten getötet worden. Damit war Ian in diesem Jahr bereits der siebenundzwanzigste erstochene Jugendliche in London.
„Ja?“ Selbst dieses eine Wort schien die arme Frau unendlich viel Kraft zu kosten.
„Guten Abend, Mrs Carmichael. Mein Name ist Elizabeth Parker. Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust aussprechen.“
„Sind Sie auch von der Polizei? Ihre beiden Kollegen sind fast fertig …“ Die Frau öffnete die Tür etwas weiter, sah über die Schulter zurück ins Haus und trat zur Seite.
„Nein, ich bin nicht von der Polizei. Ich schreibe für den London Star an einem Hintergrundbericht über …“
In diesem Moment erschienen drei Männer hinter der Frau. „Danke, Mr und Mrs Carmichael. Wir halten Sie über die Ergebnisse unserer Ermittlungen auf dem Laufenden“, sagte ein Mann mit kurzen, blonden Haaren.
„Denken Sie denn, es steckt mehr dahinter, als nur ein Streit unter Jugendlichen?“, fragte der älteste der drei Männer. Das musste Ians Vater sein. Er war mindestens fünfundfünfzig, und damit deutlich älter als seine Frau und die beiden anderen Herren. Diese waren in den Dreißigern und wohl die Polizisten, die Mrs Carmichael eben erwähnt hatte.
Der blonde, der gerade gesprochen hatte, war etwa von Elizabeths Größe und hatte ernste, stahlblaue Augen. Der andere war dunkelhaarig, von sportlicher Statur und ein gutes Stück größer als sein Kollege. Anstelle von Uniformen trugen beide dunkle Anzüge.
Die zwei waren Detectives, erkannte Elizabeth erstaunt.
Bevor einer der Beamten auf Mr Carmichaels Frage antworten konnte, sagte seine Frau: „Charles, diese Person ist vom Star und schreibt über Ian.“
Vier Augenpaare richteten sich auf Elizabeth, die noch immer auf der Türschwelle stand und unbewusst einen Schritt zurückwich.
„Mann, ihr Typen schreckt echt vor nichts zurück, was?“ Diesmal war es der dunkelhaarige Polizist, der sprach. Kopfschüttelnd steckte er ein schwarzes Notizbuch in die Innentasche seines Sakkos.
Sein Kollege bedachte Elizabeth mit einem verächtlichen Schnauben: „Wie die Kakerlaken.“
Auch Mr Carmichaels Ton war voller Abscheu, als er neben seine Frau trat und sagte: „Hören Sie, Miss, weder meine Frau noch ich sind im Moment in der Verfassung mit der Presse zu sprechen. Und falls wir das jemals tun werden, dann sicherlich nicht mit einem Boulevardblatt wie dem London Star. Guten Abend!“
Wie ein im Scheinwerferlicht gefangenes Reh verharrte Elizabeth auf dem obersten Treppenabsatz und wünschte, der Boden möge
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