Samurai 4: Der Ring der Erde (German Edition)
Prolog
Der Brief
Japan, 1614
Liebste Jess,
ich hoffe, dieser Brief erreicht dich irgendwann. Bestimmt glaubst du, ich sei schon vor Jahren auf dem Meer umgekommen. Du wirst dich freuen zu hören, dass ich lebe und wohlauf bin. Vater und ich sind im August 1611 in Japan angekommen. Leider muss ich dir mitteilen, dass Vater bei einem Überfall auf unser Schiff, die Alexandria, getötet wurde. Ich habe als Einziger überlebt.
Die vergangenen drei Jahre habe ich in einer Samuraischule in Kyoto zugebracht. Ihr Leiter, ein japanischer Krieger namens Masamoto Takeshi, nahm mich in seine Obhut. Aber ich hatte es trotzdem nicht leicht.
Ein Auftragsmörder, ein Ninja, der sich Drachenauge nennt, sollte den Portolan unseres Vaters stehlen. Du erinnerst dich bestimmt an dieses Logbuch, es war für Vater sehr wichtig. Dem Ninja gelang es zwar, seinen Auftrag auszuführen, doch konnte ich das Buch mithilfe meiner Freunde, die ebenfalls Samurai sind, zurückholen.
Eben dieser Ninja hat auch unseren Vater ermordet. Ich kann dir versichern, dass der Schurke jetzt tot ist, auch wenn dich das kaum trösten wird. Er hat seine gerechte Strafe erhalten. Nur leider erweckt sein Tod Vater nicht wieder zum Leben. Ich vermisse ihn unendlich und könnte seinen Rat und seinen Schutz zurzeit gut gebrauchen.
Japan wird gegenwärtig von einem Bürgerkrieg gespalten. Ausländer wie ich sind nicht mehr willkommen. Als Flüchtling muss ich jeden Tag um mein Leben fürchten. Jetzt wandere ich in Richtung Süden durch dieses merkwürdige, fremdartige Land. Ich versuche die Hafenstadt Nagasaki zu erreichen, in der Hoffnung, dort ein Schiff zu finden, das mich zurück nach England bringt.
Auf dem Tokaido, der Straße, auf der ich unterwegs bin, lauern allerdings zahlreiche Gefahren und viele Feinde trachten mir nach dem Leben. Hab aber keine Angst um mich. Masamoto hat mich zum Samurai ausgebildet und ich werde kämpfen, bis ich zu dir nach Hause zurückgekehrt bin.
Eines Tages kann ich dir hoffentlich persönlich von meinen Abenteuern berichten.
Möge Gott dich bis dahin schützen, geliebte Schwester.
Dein Bruder Jack
1
Gaijin und Samurai
Japan im Sommer 1614 »He, Fremder, du sitzt auf meinem Platz!«, raunzte der Samurai.
Jack hörte auf, seine Nudeln zu schlürfen. Zwar gab es in dem heruntergekommenen Wirtshaus von Shono, einer Raststation für Reisende des Tokaido, noch genügend freie Bänke, doch wagte er nicht, dem Samurai zu widersprechen. Ohne unter seinem Strohhut aufzublicken, rutschte er zum Nachbartisch hinüber. Dort beugte er sich wieder über die dampfende Schale und nahm den nächsten Mund voll.
»Ich sagte, du sitzt auf meinem Platz«, wiederholte der Samurai und legte drohend die Hand an den Griff seines Schwertes. Hinter ihm sah Jack die mit Sandalen bekleideten Füße zweier Begleiter. Er zwang sich zur Ruhe. Auf seiner Reise hatte er ernsthafte Zusammenstöße bisher vermeiden können. Hoffentlich gelang ihm das auch weiterhin.
Leicht würde es nicht sein, das wusste er. Ganz Japan befand sich in Aufruhr. Daimyo Kamakura hatte den Bürgerkrieg gewonnen und sich zum Shogun ausrufen lassen, dem höchsten Herrscher Japans. Viele seiner Samurai nutzten das aus. Trunken vom Sieg, vom Reiswein und von der neu gewonnenen Macht schikanierten sie die Bevölkerung und alle, die einen niedrigeren Rang bekleideten als sie.
Jack sah auf den ersten Blick wie ein einfacher Bauer oder Pilger aus. Er trug einen schlichten blauen Kimono, Sandalen und den kegelförmigen Strohhut der Reisbauern und der buddhistischen Mönche. Die breite Krempe verbarg sein Gesicht.
Wortlos rutschte er noch einen Tisch weiter.
»An dem sitzt mein Freund.«
Von den beiden Begleitern war unterdrücktes Lachen zu hören. Jack merkte, dass man ihn hier nicht in Ruhe lassen würde. Er musste gehen. Wenn die Männer erst feststellten, wer er in Wirklichkeit war, steckte er so richtig in der Klemme. Als Gaijin, Ausländer, war er allen möglichen Schikanen ausgesetzt. Der Shogun hatte als eine seiner ersten Amtshandlungen Ausländer und Christen aus dem Land verbannt. Entweder sie gingen sofort oder sie wurden bestraft. Für einige übereifrige Samurai verschwanden die Ausländer nicht schnell genug. Jack war auf dem kurzen Weg von Toba zum Tokaido bereits an der verstümmelten Leiche eines christlichen Priesters vorbeigekommen. Sie hing an einem Baum und verweste langsam in der Sonne.
»Ich bin gleich fertig und gehe dann«, sagte er in fließendem
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