Hirngespenster (German Edition)
Prokurist sei er, und ich muss schmunzeln darüber, dass sie keine Ahnung davon haben dürfte, was ihr Freund beruflich macht. Sie berichtet von den Mädchen, die sie auf Trab halten, aber dank ihres Therapeuten meistert sie alles ohne Pillen. Bei den Worten Therapeut und Pillen zieht Olga erstaunt die Augenbrauen hoch, doch Anna spricht unbeeindruckt weiter. Ich habe sie noch nie so selbstbewusst erlebt. Ihre Augen leuchten, ihre kurzen kastanienbraunen Haare glänzen im Licht der Lampe, und ihr Blick wandert immer wieder zu mir. Sie lächelt mir zu. Ich beobachte sie andächtig weiter. »Es geht mir gut«, sagt sie, »auch wenn es lange gedauert hat. Und es tut mir leid, dass ich mich nie bei euch gemeldet habe, nachdem ich Johannes diese schlimmen Dinge an den Kopf geworfen hatte – ich war einfach noch nicht so weit …« – sie wedelt in meine Richtung – »… auch ihretwegen. Na ja, und die Jungs zu sehen – ich wusste nicht, ob ich das alles schaffe.«
»Was mit Silvie passiert ist, hat dich zurückgeworfen«, nickt Sabina.
Anna schüttelt den Kopf. »Was mit Silvie passiert ist, das hat mich um geworfen. Wie viel Halt sie mir all die Jahre gegeben hat, begriff ich erst, als sie nicht mehr da war. Und ich habe nie eine Chance bekommen, auch nur einmal für sie da zu sein. Ich meine, sie lag dort auf dem Beton, und es waren nur Fremde bei ihr. Nur Fremde! Wenn bloß dieser Rettungswagen durchgekommen wäre! Aber nein, dieses liegengebliebene Auto mitten im Berufsverkehr hat alles vermasselt!« Sie blinzelt und schluckt, und ich klebe weiter an ihren Lippen. Kann mich gar nicht so recht erinnern an diese Situation. Da spricht sie auch schon weiter. »Durch das, was ihr zugestoßen ist, wurde mir plötzlich klar, dass das Leben jederzeit vorbei sein kann, auch ohne Krebs. Und dass ich endlich anfangen muss zu leben, weil das Leben ein Geschenk ist. Silvie wusste das immer. Bis zur letzten Sekunde.« Sie blickt mich traurig an und fährt fort. »Und dann hatte ich eines Tages ein Erlebnis, als hätte ich einen Geist gesehen. Es ging mir furchtbar schlecht – der Entzug war so schmerzhaft, dass ich nur noch um mich schlug. Sie haben mich auf dem Bett in meinem Zimmer fixiert, und ich war so verzweifelt, dass ich nur noch sterben wollte. Und da nahm etwas meine Hand, ich schwöre es euch. Und ich spürte in meinem Bauch: Alles wird gut. Ich komme von den Tabletten weg, ich werde nie wieder Krebs haben, meinen Kindern wird es gutgehen, und ich werde wieder glücklich sein.«
Olga schnalzt mit der Zunge. »Wie sah aus, Geist?«
Anna lacht. »Ich habe natürlich keinen gesehen! Und ich glaube auch nicht an Geister – aber da war etwas, das mir urplötzlich Ruhe und Zuversicht einflößte. Ich wusste plötzlich, dass es stimmte, was mein Therapeut mir immer gepredigt hatte: Dass Silvie mich bewundert hat für meine Kraft, die ich selbst nie habe sehen können. Sie hatte immer Vertrauen in mich, mein Leben lang. Und seitdem ich das begriffen hatte, ging es stetig bergauf, auch mit den Kindern. Ich konnte mir selbst verzeihen. Und ich lernte endlich, aus meinen Ängsten auszubrechen.«
»Wann war das?«, fragt Sabina und nippt an ihrem Kaffee.
» Etwa sechs Monate nach Silvies Tod«, antwortet Anna.
Sabina lächelt sehnsüchtig. »Ungefähr zur gleichen Zeit wurde ich mit der Kleinen schwanger«, sagt sie, und alle grinsen mich an. Ich schaue verlegen zu Boden, doch Olga kneift mir in die Wange, und ich kreische vor Vergnügen. Dann plappern sie auch schon weiter, und es geht plötzlich um den Job, den Sabina Anna anbieten will, weil Olga geht. Sie soll für sie schneidern, festangestellt werden, vor allem nach Sabinas Niederkunft mehr Verantwortung übernehmen, auch selbst entwerfen. Sabina zeigt ihr Stoffmuster und Schnitte und fertige Kleidchen, und Anna ist von allem begeistert. Sagt, dass sie dann Nils und Ole häufiger sehen kann und – sie zwinkert mir wieder zu – mich natürlich auch.
»Was wird es eigentlich?«, fragt Anna plötzlich und deutet auf Sabinas Bauch.
»Ein Junge diesmal«, antwortet sie und lächelt.
Anna deutet auf mich: »Und wie heißt die Kleine?«
»Lea«, antwortet Sabina, und ich lege den Kopf schräg. Meistens sagen sie Engel oder Dicke, aber das wird sie hier natürlich nicht zugeben.
Anna streicht mir über den Kopf und sagt: »Du hast es gut, kleine Lea – vier Männer um dich herum, die dich auf Händen tragen werden.« Dann wendet sie sich Sabina zu und fragt:
Weitere Kostenlose Bücher