Hirschgulasch
Pass
hinaufgefahren und kurvten nun hinunter nach Sterzing. Es war der zweite
Weihnachtsfeiertag. Auf der Landstraße war nicht allzu viel los, und das Wetter
war grau und regnerisch.
»Machst du dir Sorgen?«, fragte sie. »Das Auto hat doch schon
manches Abenteuer mitgemacht. Warum nicht auch dieses?«
Pablo, der am Steuer saß, schaute kurz zu ihr hinüber. Schön sah sie
aus. Er war froh, sie zur Freundin zu haben.
»Wahrscheinlich hast du ja recht. Die Kiste ist nicht totzukriegen.
Wird schon gut gehen …«
Bei Sterzing fuhren sie auf die Autobahn, lösten die Mautkarte und
hielten sich fortan vorschriftsgemäß an die Höchstgeschwindigkeit von
hundertzehn Stundenkilometern – was kein Problem war, denn viel schneller wäre
der vollgepackte Astra, den Pablo vor zwei Jahren für elfhundert Euro und drei
Kasten Fohrenburger einem Mitstudenten abgekauft hatte, ohnehin nicht mehr
gefahren.
Zwischen Franzensfeste und Brixen, dort, wo das Eisacktal breiter
und offener wurde, erhaschten sie einen kurzen Blick auf die Spitzen der
Geislergruppe.
»Schau!«, sagte Pablo. »Die Dolomiten.« Selbst im grauen Licht des
ausklingenden Wintertages sahen die schneeverkrusteten Felsgipfel eindrucksvoll
aus. Für Bergsteiger und Kletterer wie Pablo und Marielle ein geradezu
berauschender Anblick. Eine Verheißung großer alpiner Abenteuer und im besten
Fall auch rauschhaften Klettergenusses. Normalerweise.
Pablo aber spürte, dass Marielle noch nicht so weit war. Dass ihre
früher so innige Beziehung zur Natur noch immer gestört war. Dass sie die Liebe
zu den Bergen noch nicht wiedergefunden hatte. Dass sie gar nicht hinsehen
wollte. Und er fragte sich, wie es ihr und ihm in den Calanques ergehen würde.
Sie fuhren fast die ganze Nacht durch, abwechselnd am Steuer sitzend
und auf dem Beifahrersitz dösend. Im Winter beginnen die Nächte früh, und so
sahen sie schon ab Trient nichts mehr von der Landschaft. Erahnten das Gebirge
nur an den Lichtern hochgelegener Dörfer, Weiler oder einsamer Bauernhöfe.
Bei Verona traten die Alpen zurück, sie kamen in die Po-Ebene und
waren nun gezwungen, noch langsamer zu fahren: Wie so oft um diese Jahreszeit
herrschte dichter Nebel.
Als sie morgens um zwei die Riviera erreichten, verließen sie die
Autobahn und tuckerten hinunter zu einem der jetzt ausgestorben wirkenden
Küstenorte. Sie parkten dort, wo der Strand anfing, holten im Schein ihrer
Stirnlampen Isomatten und Schlafsäcke aus dem Kofferraum und legten sich, keine
fünfzehn Meter vom Meeressaum entfernt, in den Sand.
Wie mild es hier ist, dachte Marielle. Sie spürte Pablos
Gutenachtkuss auf der Wange, sie hörte das Meer ganz unaufgeregt atmen, sie sah
die Sterne, doch die wollte sie nicht sehen. Ganz schnell schloss sie die
Augen. Nein, Sterne wollte sie nicht sehen. Wollte nicht erinnert werden an
jene Nächte an der Schattenwand, wo sie vor über einem Jahr um ihr Leben
gekämpft hatte. Nur nicht daran denken. Nur schlafen. Alles wegschlafen.
Es war Pablos Idee gewesen: Jetzt, zur Weihnachtszeit, irgendwohin
zu fahren, wo man klettern konnte. Ganz entspannt, ohne Winterklamotten, ohne
Thermozeug und ohne dicke Fäustlinge. Ohne Eisausrüstung und ohne
Erfrierungserscheinungen.
Es hätte auf dem Weg nach Süden gleich mehrere Klettergebiete
gegeben, die in Frage gekommen wären. Finale Ligure zum Beispiel oder die
Felsgebiete bei Nizza. Oder auch in der Provence: Beaux, die Verdonschlucht,
Les Alpilles. Kumpels aus der Kletterhalle hatten Pablo zur Verdon geraten, da
wäre die Kletterei viel schöner als sonst wo in Europa. Doch er hatte sich
nicht abbringen lassen von seiner Idee, in den fjordartigen Calanques zwischen Marseille
und Cassis genussvoll über dem Meer zu klettern. Das, da war er sich gewiss,
wäre für Marielle jetzt das Richtige. Großartige Natur, schöne, nicht allzu
schwierige Kletterei und ganz besondere Stimmungen. Vielleicht würde ihr das ja
helfen, über ihr Trauma hinwegzukommen. Wieder Freude zu finden am Klettern und
vielleicht auch an den Bergen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht …
Sie fuhren an der Küstenstraße entlang, um sich die Autobahngebühren
zu sparen. Das bedeutete zwar, dass sie viel langsamer vorankamen. Aber sie
hatten ja Zeit – und außerdem war es wunderschön.
Der Himmel war leuchtend blau, wolkenlos. Das Meer war blau mit
einem bleiernen Schimmer, und weit draußen tanzte die Gischt auf den Wellen.
Die Sonne kam so warm durch die Scheibe, dass sie die
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