Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
Amsterdam 1524
Seine Hände sind filigran genug für das, was er tun muss. Er hat ohnehin keine Wahl. Unermüdlich lässt er die feine Spitze der Nadel über das Silber gleiten, malt damit das Motiv, das ihm der Meister aufgetragen hat.
»Es ist der Kristall, der das Leben unendlich macht. Er vergeht nie. Niemals.«
Der Mann weiß nicht, zu wem die Stimme gehört, denn der Meister offenbart sich nie, bleibt immer hinter einem Vorhang versteckt oder trägt eine dunkle Ledermaske, die ihn nicht verrät. Der Alte aber weiß um dessen Macht und Kraft, wenn er die Peitsche über seinen Rücken zischen lässt, weil die Arbeit nicht so vonstatten geht, wie der Meister es wünscht. Also schläft er nur, wenn er es nicht vermeiden kann, tut, was von ihm verlangt wird. Der Alte hofft, dass der Meister zufrieden ist. Dann sind ihm diese letzten Tage in Frieden vergönnt, auch wenn Augen und Rücken schmerzen. Wenn er das Werk vollendet hat, wird er sterben.
»Es ist ein Geschenk für das Wertvollste, was es gibt. Du bist der Auserwählte, der es für mich erstellt. Mache es gut, auch wenn es das Letzte ist, was du in deinem Leben tun wirst. Das, was ich getan habe, ist der größte Frevel unter uns Glaubenden. Nie darf jemand davon erfahren. Und du weißt zu viel. So bleibt mir keine Wahl. Ich muss es tun«, hat der Meister gesagt, und der alte Mann spürte die Peitsche zum ersten Mal auf dem Rücken. So heftig, dass ihm das Blut heruntergelaufen ist. Anschließend hat eine dampfende Schale Haferbrei vor ihm gestanden, ein Festmahl für den Alten, ein Essen, das er sonst nicht bekommt.
Welche Wahl hat er? An seinem Bein hängt eine Kette, die der Meister an der Wand befestigt hat. Er ist ihm ausgeliefert wie ein Hofhund. Macht er seine Sache gut, gibt es eine warme Mahlzeit; tut er es nicht, tanzt die Peitsche über seine bereits geschundene Haut.
Obwohl die Hände des Alten immer wieder zittern, gelingt es ihm, die winzig kleinen Linien zu ziehen und das hineinzugravieren, was von ihm verlangt wird. Vor ihm auf dem Tisch glitzert im Kerzenschein ein großer Kristall. Das Licht der Flamme bricht sich in den einzelnen Flächen, verzaubert den Edelstein in ein Mysterium, das ohnegleichen an Schönheit ist. Genau so muss er ihn abbilden. Der Kristall soll in einem Meer schwimmen, mit kleinen Wellen, die seinen Fuß umspielen.
»Wenn die Gravur fertig ist, wirst du aus einer Zacke eine Träne schleifen. Eine Träne, die nie vergeht.«
Der Alte hat schon viel Schmuck in seinem Leben hergestellt, er ist der beste Edelsteinschleifer und Goldschmied weit und breit. Das, was er zeit seines Lebens als Reichtum empfunden hat, wandelt sich nun zu einem Fluch, der ihn vorzeitig ins Jenseits befördern wird. Er war immer gottesfürchtig, hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen.
Dennoch ist eines Abends jemand in seine Kammer eingedrungen. Als er aufwachte, lag er in dieser Werkstatt und hatte die Kette am Bein.
Dem Mann tränen die Augen, das Licht der Unschlittkerzen reicht oft nicht, um ihn genau arbeiten zu lassen, zumal sie stark rußen und seiner alten Lunge einen Hustenreiz bescheren. Er muss sich tief über das Silber beugen, die Nadel darübergleiten lassen. Es wird sein Meisterwerk werden, sein absolut gelungenstes Stück. Enden wird es mit der Träne, die kalt ist wie Eis. Weil sie für die Liebe gedacht ist, aber sein Blut daran klebt. Ihm wird es verwehrt bleiben zu sehen, wie das Medaillon über die Haut einer schönen Frau gleitet. Wenn der Alte doch einmal kurz die Augen schließen muss, überkommt ihn das Bild eines jungen Weibes am Saum der See. Das Licht bricht sich in den Wellen, und seine Strahlen spiegeln sich im Silber des Medaillons wider.
Diese Gedanken erfrischen ihn, lassen ihn sein Werk noch besser machen, so lange, bis er wirklich zufrieden ist und jeder einzelne Strich seiner kritischen Begutachtung standhält. Dann ist das Medaillon mit dem Meerkristall fertig.
»Die Träne, die ich hineinlege, soll in Wellen aus Gold schwimmen. Sie soll aussehen, als falle sie genau in dem Augenblick aus meinem Auge«, sagt der Meister, während seine Fingerkuppe über das Medaillon streicht.
Wieder schleift und arbeitet der Alte, weiß, dass sein Ende naht. In dem Augenblick, wo die Träne rollt, ist der Tod gewiss. Seine Bewegungen werden langsamer, er will den Moment hinauszögern. Noch ein bisschen atmen und wenn es die stickige Luft dieser dunklen Werkstatt ist. Noch ein wenig den Schweiß spüren, wie er
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