Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
verschwunden. »Ich muss nach Emden. Dort lebt der Stadtarzt Jacobus Cornicius. Er ist Humanist, Naturwissenschaftler und Leibarzt am ostfriesischen Hof. Er hat interessante Schriften verfasst. Ich muss mit ihm reden, mit ihm forschen. Die Medizin ist mein Leben, Hiske. Ich bin nur dazu geboren. Ich komme aber zurück. Bestimmt tue ich das.« Sein »Irgendwann« hatte er nur genuschelt, aber die Hebamme hatte es doch gehört.
Einen Mann wie Jan Valkensteyn konnte man nicht halten. Er war kein Mensch, der in einem Käfig glücklich werden würde. Nicht einmal, wenn man die Tür offen ließ.
Wie gern hätte Hiske den Arzt nun an ihrer Seite, vor allem jetzt, in diesem Gewirr der rätselhaften Erkrankungen, die mit der wachsenden Bevölkerung immer stärker um sich griffen. Es war ja nicht nur das Marschenfieber, das die Kinder und Alten dahinraffte, immer wieder flackerte auch der Typhus auf. Hiske hatte gehört, dass die Lustseuche, die Syphilis, in den benachbarten Städten um sich griff. Sie hoffte, dass diese Geißel vor den Toren der Herrlichkeit Halt machen würde, nur wer konnte sich da sicher sein?
Mittlerweile glaubte Hiske nicht mehr an Jans Rückkehr. Zu viele Stunden der Hoffnung waren vergangen, sie wollte keinen einzigen Funken Erwartung mehr zulassen. Sie war ihm nicht wichtig genug gewesen, wahrscheinlich hatte er längst ein anderes Weib und Kinder. Männer vergaßen schnell. Drei Jahre waren eine lange Zeit. Sie hätte ihm damals vielleicht Einblick in ihre Gefühle geben sollen, aber dazu war die Hebamme zu stolz. »Was hätte es mir auch gebracht«, sagte sie zu sich selbst. »Er wäre trotzdem gegangen, und mein Schmerz wäre größer als jetzt.«
Hiske straffte den Rücken. Sie sollte allein versuchen, die Probleme in der Neustadt und im Lager in den Griff zu bekommen. Ganz gleich, was noch auf sie zukam, ganz gleich, welche Bürden sie noch würde tragen müssen. Immer mehr Kinder starben auf rätselhafte Art und Weise. Und immer in den Sommermonaten, vor allem, wenn es sehr warm war. Im Winter trat die Krankheit nicht auf. Es war, als falle das Fieber zusammen mit den sinkenden Temperaturen tief in den Keller, um im nächsten Sommer mit ganzer Kraft erneut emporzusteigen. Hiske hatte ein paar Schriften studiert und war, wie die Gelehrten, zu der Erkenntnis gekommen, dass das Fieber mit dem Moor und der Marsch und den im Sommer auftretenden Nebeln in Zusammenhang stand. Nacht für Nacht klebten die weißen Schleier wie eine feste Schicht über den Wiesen und dem Sumpfland. Wer wusste schon, was sich in dem geheimnisvollen Weiß verbarg.
Tun konnte sie nichts, wenn die Kleinen, vom Fieber geschüttelt, in ihren Bettchen lagen, im eigenen Schweiß gebadet. Ihr blieb nur der Versuch, die Hitze zu senken, damit sie eine Weile durchhielten. In ganz seltenen Fällen trotzten sie der Krankheit und überlebten.
Garbrand, der alte Mönch, hatte Hiske noch andere, fremdartig anmutende Kräuter gezeigt, mit denen er in England gearbeitet hatte. Er musste vorsichtig sein, damit sein Können nicht auffiel und man ihn als Mönch enttarnte. Obwohl Hiske sich sowieso fast sicher war, dass die meisten Bewohner es wussten oder aber zumindest ahnten. Warum sie den alten Mann dennoch stiekum duldeten, konnte sie nicht sagen, denn schlimmere Feinde als die Papisten gab es für die Täufer, aber auch für die von der Häuptlingswitwe Hebrich von Knyphausen eingeführte reformierte Kirche nicht. Der Hass auf die Katholiken hatte sich in den Jahren nicht verringert, war aber in weniger aggressive Bahnen gelenkt worden.
Hiske seufzte auf, nahm ein kleines Stöckchen und warf es ins Wasser. Sie sah den dabei auftretenden Ringen zu, bis sie sich in der Weite des Schwarzen Bracks verloren und den Mond, der sich in der Wasseroberfläche spiegelte, in Falten legten.
Sie würde wohl oder übel so weitermachen müssen wie bisher. Immerhin hielt Hinrich Krechting, der als Armen- und Kirchenvorstand in der Herrlichkeit alle Fäden in der Hand hatte und die rechte Hand Hebrichs war, große Stücke auf sie. Er glaubte daran, dass sie den kranken Kindern die Linderung geben konnte, die sie brauchten. Denn die Mütter scheuten sich, den Bader Dudernixen aufzusuchen, der mit seinen Aderlässen und anderem Firlefanz schon vier Kinder auf dem Gewissen hatte, das aber vehement abstritt. Ein Arzt hatte sich bislang nicht niedergelassen. Nach Jan Valkensteyn war keiner mehr in Gödens gewesen. Der neue Flecken am Siel bot einfach
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