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Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall

Titel: Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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Stück für Stück über den geschundenen Rücken rinnt. Es ist so wenig, was er noch vom Leben fühlt, und doch ist es ihm so viel.
    Der Alte poliert das Silber ein letztes Mal, legt die Träne in das mit dunkelblauem Samt ausgeschlagene Medaillon hinein.
    Der Meister schläft noch, er aber wird jetzt nicht ruhen. Er hat noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen, die es ihm nicht erlaubt, das müde Haupt schon jetzt aufs Strohlager zu betten. Der Mann schleicht sich, soweit seine Kette es zulässt, in Richtung der Kammer des Meisters, der auf seiner Bettstatt liegt und schnarcht. Dem Alten zittern die Knie. So weit hat er sich noch nie vorgewagt. Der Meister will, dass der Meerkristall in goldenen Wellen badet. Nur wie der Alte das anstellen soll, hat er nicht gesagt. Vielleicht wird er ihn vor seinem Tod noch auspeitschen, wenn er es nicht hinbekommt, oder er wird ihn verhungern oder verdursten lassen. Ein gnädiger und rascher Tod ist ihm nur gewiss, wenn er alles genau so tut, wie es verlangt wird.
    In der Ecke der Kammer liegt ein großes Kissen, das mit Goldbrokat bestickt ist. Der Alte legt sich auf den Bauch, angelt danach, und schließlich kann er ein paar Fäden herausziehen. Es dauert eine Weile, ehe er wieder zu Atem gekommen ist. Kaum aber sitzt er auf seinem Hocker, beginnt er, die Wellen hineinzusticken. So füllt er das weiche Blau nach und nach.
    Doch noch immer fehlt etwas. Das, was das Kunstwerk zu seinem macht, seine Handschrift trägt, auch ohne dass es für den Meister offensichtlich ist. Das ist dem Alten wichtig, auch wenn nie jemand erkennen wird, dass er es geschaffen hat. Er nimmt den blauen Samt wieder in die Hand und stickt zwischen die Wellen kleine Sterne. Für jeden Tag seiner Arbeit einen und am Ende sieht es aus, als spiegele sich der Himmel im Meer.
    Der erste Hahn kräht bereits, als er den letzten Stich tut. Sein Garn ist alle, das Werk vollbracht. Der Alte schließt die Augen und schläft ein.

1. Kapitel
1548, Herrlichkeit Gödens – Ostfriesland
    Hiske schlug die Plane beiseite und kletterte vom Wagen. Die Burg Gödens, auf dessen Hof sie sich befand, lag im Dunkel der Nacht, nur ihr Turm wurde vom fahlen Mondlicht angestrahlt. Die Hebamme verspürte keine große Lust, schon jetzt in ihre kleine Kate, die auf dem Weg nach Hebrichhausen lag, zurückzukehren. Sie war unglaublich erschöpft. Das Marschenfieber raubte den Menschen in der Herrlichkeit Woche für Woche Kinder und Alte. Meist konnte Hiske nichts tun. Jedes Kind, das starb, empfand sie jedoch als persönliche Niederlage. Sie hatte kein Mittel, kein Kraut, das wirklich half.
    Nach der Enge und dem Schweiß im Wagen sehnte sich Hiske nach frischer Luft. Sie machte sich auf den Weg zum Schwarzen Brack, der großen Meeresbucht, und schlug einen forschen Schritt an. Jeder, der sie so sah, würde vermuten, dass sie in großer Eile war, vielleicht auf dem Weg zu einem niederkommenden Weib. In Wirklichkeit aber befand sie sich auf der Flucht. Auf der Flucht vor ihren Gedanken, ihren Gefühlen und der eigenen Unzulänglichkeit.
    Sie war froh, als sie am Schwarzen Brack angekommen war und über dessen dunkle Oberfläche blicken konnte. Es wirkte in der Nacht noch dunkler als sonst. Keine Welle kräuselte die glatte Oberfläche, über der die Mückenschwärme tanzten.
    Die Tage waren viel zu heiß, die Luft roch modrig, und das Dünnbier schmeckte von Tag zu Tag schlechter. Auch der gute Käse der Holländer konnte den üblen Geschmack nicht mehr auffangen.
    Hiske kam häufig allein hierher, immer dann, wenn sie glaubte, vom Leben erdrückt zu werden. So wie jetzt, wo Tod und Krankheit die Menschen knechteten. Menschen, denen sie sich zugehörig fühlte, Menschen, die sie nach langer Zeit als ihresgleichen angenommen hatten.
    Hiske setzte sich ins taufeuchte Gras, sah zu den Sternen und zum Mond, der sich schon morgen wieder ganz runden würde. Ruhe durchströmte sie, milderte den Schmerz, der nicht nur wegen der toten Kinder in ihr tobte. Dieser Schmerz hing auch mit Jan Valkensteyn zusammen, der Gödens verlassen hatte und ihr damals nicht hatte sagen können oder wollen, wann er zurückkommen würde.
    Hiske dachte oft an den jungen Arzt, dem sie ihr Leben verdankte. Er hatte sie tiefer berührt, als sie es sich eingestand. Nur an Abenden wie diesen ließ sie ihre Gefühle zu. Er war seit fast drei Jahren fort. Nachdem er zunächst behauptet hatte, er bleibe, war er schon kurze Zeit später mit dem nächstbesten Schiff

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