historical 176 - Meer der Sehnsucht.doc
konnte sich kaum noch daran erinnern, was er zu sich genommen hatte. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken nur so durcheinander; die meisten davon drehten sich um Ambrosia Lambert.
Nichts von alledem, was er erwartet hatte, war eingetreten. Er hatte felsenfest damit gerechnet, dass die Bewohner von MaryCastle schier zusammenbrechen würden. Er hatte sich gewappnet gegen den erwarteten Schmerz, die wehklagenden Laute. Auch war er darauf vorbereitet gewesen, dass die jungen Frauen in Ohnmacht fallen würden und er dabei behilflich sein müsste, sie zu Bett zu bringen. Deshalb hatte er auch die Geistlichen gebeten, ihn auf seinem schweren Gang zu begleiten.
Ihr Schmerz und ihre Trauer waren aufrichtig gewesen. Doch was ihn zutiefst beeindruckt hatte, war die außergewöhnliche innere Kraft, die die jungen Damen ausgestrahlt hatten, ganz besonders Ambrosia.
Sie hatte geahnt, was auf sie alle zukam. Schon im ersten Augenblick war ihr klar gewesen, welche Nachricht er zu überbringen hatte. Die Art und Weise, wie sie den Schicksalsschlag hingenommen und sich tapfer gehalten hatte, nötigte ihm den größten Respekt ab. Gleichzeitig hatte er das Bedürfnis verspürt, Ambrosia in die Arme zu nehmen und ihr Trost zu spenden, ihr zuzuflüstern, dass irgendwie und irgendwann alles wieder gut werden würde. Aber natürlich war ihm klar, dass ihr Leben eine unumkehrbare dramatische Wendung genommen hatte.
Riordan setzte seine Tasse ab. Ihm war nach einem stärkeren Getränk als Tee zumute.
Gerade wollte er nach der Dienstmagd läuten, als es leise an der Tür klopfte und im nächsten Moment Mistress Coffey eintrat.
„Haben Sie noch einen Wunsch, Captain Spencer, bevor ich Ihnen Ihr Zimmer zeige?"
„Ja, in der Tat", erwiderte er. „Ein Ale wäre jetzt genau das Richtige für mich."
„Ich werde es Ihnen bringen lassen", erklärte die Haushälterin und läutete nach dem Zimmermädchen. „Bitte folgen Sie mir jetzt."
Riordan ging hinter Mistress Coffey die breite gewundene Treppe hinauf in das zweite Stockwerk. Hinter einer der ge schlossenen Türen, an denen er vorbeikam, hörte er gedämpfte Frauenstimmen und ein herzzerreißendes Schluchzen.
Langsam folgte er der Haushälterin, die schließlich vor einer Tür stehen blieb und sie öffnete. „Eine Magd wird in Kürze Ihr Getränk bringen", versicherte sie. „Ich hoffe, dass Sie hier alles zu Ihrer Zufriedenheit und Bequemlichkeit vorfinden. Sollte irgendetwas fehlen, brauchen Sie nur Libby Bescheid zu sagen. Sie wird sich dann um alles kümmern."
„Vielen Dank, Mistress Coffey."
Riordan schaute sich angelegentlich um. Die Betttücher waren bereits zurückgeschlagen.
Im Kamin brannte ein Feuer, und das Wasser in der Schüssel auf dem Waschtisch dampfte.
Trotz ihres Kummers waren die Lamberts und ihre Dienerschaft in der Lage gewesen, umsichtig für ihren unerwarteten Übernachtungsgast zu sorgen.
An einer Wand des Raums standen ein Tisch und ein Stuhl. Riordan griff nach dem Bilderrahmen, der auf dem Tisch stand, und betrachtete eingehend das kleine Gemälde darin.
Es zeigte einen jungen Mann mit seiner wunderschönen Frau und den vier gemeinsamen Kindern. Sofort wurde Riordans Blick wie magisch angezogen von dem Mädchen mit den auffallend dunklen Haaren und Augen. Schon als Kind war Ambrosia außergewöhnlich schön gewesen.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. „Herein!" rief er.
Libby, die Dienstmagd, trat ein und stellte ein Auftragebrett auf dem Nachttisch ab. Auch sie hatte, wie die Haushälterin, rote, geschwollene Augen vom Weinen. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Captain Spencer?" fragte sie höflich und sah ihn erwartungsvoll an.
„Nein, danke, Libby. Ich brauche heute nichts mehr."
Das Mädchen knickste und huschte hinaus.
Mit einem tiefen Seufzer entledigte sich Riordan seiner Jacke und seines Hemdes, goss sich aus der Kanne Ale in den bereitstehenden Becher und ging hinüber zum Kamin.
Nachdenklich blickte er in die Flammen und trank dabei gelegentlich einen Schluck.
Die Reise zurück nach Cornwall war schwierig und voller Gefahren gewesen. Am letzten Tag der ohnehin beschwerlichen Fahrt war schlagartig dichter Nebel aufgekommen, und Riordan hatte all sein Können aufbieten müssen, um den Weg nach Land's End zu finden. Sie waren vor der Küste vor Anker ge gangen, und dann hatte es noch mehrerer Fahrten in den kleinen Beibooten bedurft, bevor alle Männer von Bord der Undaunted sicher an Land gebracht worden
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